Stadt der Angst
Wie der Terror über Paris hereinbrach - und warum er noch lange nicht vorbei ist
Joachim Löw, der Bundestrainer, wird nachher sagen, dass er gleich so eine komische Ahnung gehabt hat, beim ersten Knall. Der ist so laut, dass die ganze Tribüne vibriert. Dieser Knall, das wird später klar, ist der Auftakt zur schlimmsten Terrorserie, die Paris je erlebt hat.
Freitagabend, der 13. November, es ist etwa 23.30 Uhr: Der Menschenzug in Richtung Gare de La Plaine - Stade de France bewegt sich still dahin. Der Stadionsprecher hat gerade durchgesagt, dass nun alles in Ordnung sei und die Zuschauer bitte ruhig und frei von Panik zur RER, der Pariser S-Bahn, gehen sollen. Doch sicher fühlt sich niemand. Viele blicken erschrocken um sich. Grundschüler werden vor dem Stadion hektisch von ihren Betreuern versammelt, sie sollen sich in Zweierreihen aufstellen und den Vordermann an die Schulter fassen. Dass nur ja niemand verloren geht.
Das Fußballstadion im Pariser Vorort Saint-Denis sollte ein Ort des Sports sein. Für das Freundschaftsspiel Frankreich gegen Deutschland. Dann wird es ein Ort des Terrors. Und Paris eine Stadt der Angst.
Der Angriff
Am Vormittag schon ist im Hotel des DFB eine Bombendrohung eingegangen. Polizei rückt an mit Spürhunden, das Hotel Molitor südlich des Bois de Boulogne wird evakuiert. Doch Bedrohliches finden die Beamten nicht.
Ab 19 Uhr drängen sich die Zuschauer ins 14 Kilometer weiter nordöstlich gelegene Stade de France. Am Ende sind knapp 80 000 da. Um 21 Uhr pfeift der Spanier Antonio Mateu Lahoz die Partie an, die deutschen Weltmeister spielen mit einer ungewohnten Fünfer-Abwehrkette, im Sturm feiert Mario Gomez seine Rückkehr. Es sind 20 Minuten gespielt - da dröhnt es laut durch das Stadion.
Nun werden Fußballspiele nicht selten von Donnerhall begleitet. Hooligans oder Fans zünden bisweilen so laute Böller, dass das Stadiondach zittert. Die Pariser Explosionen sind zwar extrem laut, doch wer will schon gleich an einen Terroranschlag denken? Das Spiel geht weiter.
Später stellt sich heraus: Drei Menschen haben sich nahe des Stadions in die Luft gesprengt. Zu ihnen gehört der 20-jährige Franzose Bilal Hadfi. Neben einem weiteren wird der wohl gefälschte Pass eines 25-jährigen Syrers gefunden. Auch der dritte Selbstmordattentäter ist noch nicht identifiziert. Einer von ihnen reißt einen Passanten mit in den Tod.
Hinter den Eingängen zu den Tribünen laufen nach der zweiten Explosion Sicherheitsleute hektisch umher. Langsam verfestigt sich der Eindruck, dass etwas nicht in Ordnung ist. Erst kursieren Gerüchte, dann folgen Informationen. Frankreichs Präsident François Hollande verlässt das Stadion. Die anderen etwa 80 000 Zuschauer bleiben drin und verfolgen das Spiel. Von Minute zu Minute wird es leiser. Als die meisten Gewissheit haben, dass gerade schlimme Dinge passieren, schießt Frankreich das 2:0. Es ist bizarr, wie Unwissende oder Fatalisten den Schützen mit Sprechchören feiern.
Nach dem Schlusspfiff kommt die erste Durchsage. Wegen eines “incident extérieur” - eines äußeren Zwischenfalls - seien nur einige Ausgänge offen. Als die Zuschauer auf der Ostseite die Arena verlassen wollen, kommt es zu einer Panik. Die Menschen strömen zurück in den Innenraum und direkt auf das Spielfeld. Die Lage bleibt etwa eine halbe Stunde unklar, dann dürfen die Leute raus.
Der öffentliche Nahverkehr ist fast lahmgelegt. Manche bieten Taxifahrern Hunderte Euro, um in die Stadt gefahren zu werden. Und in einem Tunnel zum Bahnhof, durch den Tausende Menschen hindurchmüssen, singen sie spontan die Marseillaise. Singen, um nicht in Panik zu geraten.
Die Polizei hat mittlerweile alle Bewohner von Paris angewiesen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass eine solche Warnung ergeht.
Der schwarze Seat
Während das Spiel im Stade de France läuft, kommt es weiter südlich noch viel schlimmer. Es ist 21.25 Uhr, an der Kreuzung von Rue Alibert und Rue Bichat im 10. Arrondissement sitzen Dutzende Menschen vor zwei Restaurants. Das „Le Petit Cambodge“ und die Bar „Le Carillon“ sind gut besucht, viele Studenten und Alternative. Die meisten sitzen draußen, es ist eine milde Novembernacht. Aber selbst wenn es einmal kalt würde, gibt es Heizstrahler. „Etre à la terrasse“, das ist ein Lebensgefühl in Paris.
Dann fährt ein schwarzer Seat vor.
Ohne Vorwarnung eröffnen die Insassen das Feuer auf die Gäste 15 Menschen sterben, zehn bleiben schwer verletzt zurück. Die Polizei zählt später mehr als 100 Einschüsse.
Der Seat fährt weiter, die Rue Bichat entlang, biegt nach rechts, am Ende der Straße scharf links, in die Rue de la Fontaine au Roi. Dort liegen das Café „A la Bonne Biére“ und die Pizzeria „Casa Nostra“. Es ist 21.32 Uhr, wieder Dutzende Menschen an den Tischen vor den Lokalen. Die Männer in dem Seat setzen ihre Kalaschnikows an und schießen. Fünf Menschen sterben, acht werden schwer verletzt. Etwa hundert Patronenhülsen finden die Ermittler später auch hier.
Nur vier Minuten später taucht das Auto knapp zwei Kilometer südöstlich im 11. Arrondissement in der Rue Charonne vor dem Restaurent „La Belle Equipe“ auf. Wieder fallen Schüsse. Wieder findet die Polizei später mehr als 100 Patronenhülsen. Die Zahl der Opfer diesmal: 19 Tote, neun Schwerverletzte.
Gleich in der Nähe des Belle Equipe, im Restaurant „Comptoir Voltaire“, fragt die Kellnerin um 21.40 Uhr einen Gast, was er trinken möchte. Der Gast, es ist der Franzose Ibrahim Abdeslam, antwortet nicht und zündet seinen Sprengstoffgürtel. Nur er stirbt, ein Mensch wird schwer verletzt. Hier hatte Paris ein kleines bisschen Glück: Offenbar war der Gürtel defekt und explodiert nur teilweise, sonst hätte es hier noch mehr Tote gegeben.
Bataclan
Genau zur gleichen Zeit, um 21.40 Uhr, spielt die US-Rockband „Eagles of Death Metal“ im „Bataclan“ gerade das sechste Lied ihrer Show. Die Halle, ausgelegt für 1500 Personen, ist nahezu voll.
Ein schwarzer VW-Polo hält vor dem Gebäude auf dem Boulevard Voltaire. Drei Männer steigen aus, dringen in den Musikclub ein und feuern in die Menge. Zunächst halten einige Konzertbesucher, die weiter vorne stehen, die Schüsse für Knallkörper, vielleicht für einen Gag, der zur Show gehört. Doch sehr schnell wird klar: Die Männer sind zum Töten ins Bataclan gekommen. “Ihr habt in Syrien unsere Brüder getötet, jetzt sind wir hier”, ruft einer von ihnen in akzentfreiem Französisch.
Unter den Konzertbesuchern bricht Panik aus. Hunderten gelingt es, sich durch Notausgänge auf die Straße zu flüchten. Einige retten sich in einen Nebenraum, wo sie die Tür mit einem Kühlschrank, einem Sofa und einem Schrank verbarrikadieren. Andere überleben nur, weil sie sich tot stellen.
Die Täter sind nicht maskiert und agieren in aller Ruhe. Sie wechseln ihre Magazine, befehlen den Menschen, die noch in der Konzerthalle sind, sich auf den Boden zu legen. Sie haben jetzt Geiseln. Mehr als 100 Menschen sind noch in ihrer Gewalt. Wer zum Handy greift, um Alarm zu schlagen, wird sofort erschossen.
Noch bevor das Spezialeinsatzkommando am Bataclan angekommen ist, sind zwei Streifenpolizisten am Gebäude. Es gelingt ihnen, einen der Attentäter zu erschießen. Doch sie müssen sich wieder zurückziehen, auf die Spezialkräfte des Raid warten, die für solche Großlagen ausgebildet sind. Sie sind Minuten später da, belagern das Gebäude. Um 0.20 Uhr stürmt die Elite-Einheit das Gebäude, kämpft sich Meter für Meter vor und drängt die zwei verbliebenen Attentäter in einen kleinen Raum im ersten Stock. Dort zünden die Männer ihre Sprengstoffgürtel. Zwei der Attentäter wurden bislang identifiziert. Es sind die Franzosen Omar Ismaïl Mostefaï und Samy Amimour.
Nach der Erstürmung wird das ganze Ausmaß des Terroranschlags deutlich: Im Bataclan sind 89 Menschen tot, viele weitere schwer verletzt.
Paris am nächsten Tag. Direkt gegenüber den Cafés Le Carillon und Le Petit Cambodge, wo Stunden zuvor die Schüsse der Kalaschnikows töteten, liegt die Blutspendenstation des Krankenhauses St. Louis. An der Mauer rund um das Gebäude sind Einschusslöcher zu sehen, jemand hat sie mit weißer Kreide markiert. Wo normalerweise an einem Samstag nicht mehr als 15 Blutspender kommen, stehen an diesem Vormittag Menschen in langen Schlangen. Eine Ärztin sagt: “Für heute haben wir genug. Aber wir brauchen genauso viele in den kommenden Tagen.”
Mittags kommen vom Canal St. Martin drei grüne Kastenwagen und zwei kleinere Autos mit Ladeflächen herbeigefahren. Es sind Mitarbeiter der Stadtreinigung. Ein ernst schauender Mann mit Brille und weißem Ganzkörperanzug scheucht Passanten zur Seite. Dann fegen er und seine fünf, sechs Kollegen das Sägemehl zusammen, das am Abend zuvor vor dem Café ausgestreut wurde. Große, getrocknete Blutlachen kommen darunter zum Vorschein. Dann entrollen die Männer Schläuche und beginnen, mit Hochdruckreinigern den Bürgersteig zu säubern. Die Menschen treten zwei Schritte zurück und beobachten ungläubig den lärmenden, tosenden Tross, der hier seine Pflicht tut. Das Wasser vermischt sich mit den Resten des Sägemehls, dem Blut und dem Staub zu einem dunkelroten Rinnsal, das die Rue Alibert hinunterläuft und im ersten Gulli verschwindet.
Der Zugriff
Es vergehen keine vier Tage, bis in Paris wieder Blut fließt. Mittwochvormittag, 18. November, Place Victor Hugo, direkt vor dem Rathaus von Saint-Denis: Ymose Louis ist eine kleine Person. Sie spricht sehr schnell, sie gestikuliert, sie vibriert fast. “Ich habe schon Angst”, sagt die 40-Jährige. Eigentlich heißt es, dass alle in ihren Häusern bleiben sollen. Zu ihrer Sicherheit. “Aber ich wohne hier. Ich gehöre hier dazu, ich will wissen, was hier los ist.”
Was los ist: Das Zentrum von Saint-Denis ist abgesperrt. Manche Bewohner sind mitten in der Nacht von der Polizei aus den Häusern geholt worden. Andere haben sich zu Hause verschanzt. Ymose Louis hat am Morgen eine SMS bekommen von einer Freundin aus dem Zentrum. Darin steht: “Ich bin immer noch schockiert. Wir haben Angst und haben uns zusammen mit den Nachbarn in unserem Bad eingesperrt.” Von dort hören sie die Explosionen.
Gegen 4.16 Uhr fallen die ersten Schüsse. Anwohner haben die Nerven, die kriegsähnlichen Szenen mit ihren Handys aufzunehmen. Zu sehen ist wenig, aber man hört den Horror: erst einzelne Schüsse, dann Salven aus automatischen Waffen. Polizisten des Anti-Terror-Kommandos Raid huschen über die enge Rue de Corbillon in einen Hauseingang, Sekunden später weichen sie zurück.
Bernard Cazeneuve, als Innenminister der oberste Polizist Frankreichs, sagt später: Seine Beamten seien heftigstem Beschuss ausgesetzt gewesen - “so wie wir ihn noch nie zuvor erlebt haben”. Fünf Polizisten werden im Laufe des Einsatzes verletzt, keiner lebensgefährlich. Allein Diesel, die Polizeihündin, wird erschossen.
Mehr als eine Stunde dauert der Schusswechsel. Ein Hubschrauber kreist über dem Viertel. Dann, gegen sechs Uhr, startet die Polizei eine zweite Angriffswelle. Insgesamt feuern Sicherheitskräfte mehr als 5000 Schuss ab. Ein Nachbar, der sich Christian nennt, hat es beobachtet. “Da war diese Frau, die plötzlich aus dem Fenster in der dritten Etage schrie: ‘Hilfe, helft mir!’”, erzählt der Augenzeuge. Die Polizei habe die Frau aufgefordert, die Hände hochzuhalten und sich zu zeigen - ohne Reaktion. “Dann fingen die Schüsse wieder an, die Polizisten haben vom Dach des Gebäudes gegenüber geschossen. Es waren viele, viele Schüsse.”
Vermutlich stürmen in diesem Augenblick zugleich Raid-Beamte das enge Treppenhaus hinauf, mit einem Spürhund vorneweg. “Dann gab es diese enorme Explosion”, sagt Christian, “das war wohl der Moment, als sich die Frau in die Luft gesprengt hat.” In der ganzen Straße seien die Scheiben zersprungen. Eine Anwohnerin aus dem Nebenhaus erzählt später, sie habe sich im Badezimmer versteckt und sich über ihr Kind geworfen, als es knallte. “Das ganze Gebäude hat gezittert, mehrere Sekunden lang.” Die Mauern des Gebäudes werden später Risse zeigen, die Fenster sind weggesprengt.
Seit Freitag wissen die Ermittler: die Cousine Hazna A. hat sich nicht in die Luft gesprengt, wurde aber getötet, als ein anderer Terrorist seinen Sprenggürtel auslöste.
20 Minuten von hier hatte gut viereinhalb Tage zuvor der Terror begonnen in Frankreich, als sich drei Terroristen vor dem Stade de France in die Luft sprengten. Und hier hatte sich nun Abdelhamid Abaaoud versteckt, der Terrorstratege des IS und mutmaßliche Drahtzieher des Massenmords. Später bestätigen die Behörden, dass außer der Frau mit dem Sprengstoffgürtel auch Abaaoud und noch eine weitere Frau in der Rue du Corbillon ums Leben gekommen sind. Die Explosion hat das Appartement dermaßen verwüstet, dass die Ermittler sich lange nicht sicher sind, wie viele Leichen hier tatsächlich liegen.
Acht Personen nimmt die Polizei fest. Ein Mann wird ohne Hose aus dem Haus gezerrt, die Beamten hatten Angst, er könne ebenfalls Sprengstoff bei sich tragen. Aus Polizeikreisen verlautet, man habe Hinweise, dass die Verhafteten ein trainiertes Terror-Kommando gewesen seien. Und dass sie drauf und dran waren, neue Anschläge zu verüben: auf ein Einkaufszentrum im Pariser Hochhausviertel La Défense. Und auf den Flughafen Charles de Gaulle draußen am Stadtrand.
Mindestens drei der Festgenommenen waren, wie sich später herausstellte, offenbar völlig verzweifelte illegale Ausländer, die nur in derselben Wohnung geschlafen haben. Dazu kamen ein vorbestrafter Gewalttäter, seine Freundin und der Vermieter.
Der Morgen bricht an. Inzwischen zeigen Frankreichs TV-Sender den Krieg live im Frühstücksfernsehen. Eher zufällig gerät gegen 7.30 Uhr am Rande der Sperrzone von Saint-Denis ein Mann mit Designerbrille und akkurat gestutztem Backenbart vor die Kameras. Ja, die Polizei habe ihn herbeigerufen, “ich habe eben erfahren, dass sich das alles bei mir zu Hause abspielt”. Der Mann, etwa Ende 20, räumt ein, dass er einem Kumpel einen Gefallen getan und seine Bude “an zwei Leute, so für drei Tage” untervermietet habe: “Die stammten aus Belgien, aber ich wusste doch nicht, dass das Terroristen sind.” Ein Polizist nimmt ihn fest, alles live. Die Straße ist voll mit Feuerwehr, Krankenwagen und Polizisten.
Gegen Mittag schreitet der zuvor mit einem Autokorso eingetroffene Innenminister Cazeneuve zusammen mit seinem Gefolge dem Auflauf auf dem Platz Victor Hugo entgegen und erklärt den Einsatz staatsmännisch für beendet. Dabei haben die Personenschützer um ihn herum den Finger am Abzug, blicken misstrauisch umher, auch in Richtung der umliegenden Häuser. Es ist noch nicht vorbei.
Die Angst
Dieses Gefühl hat die Pariser schon in den Tagen vor dem Anti-Terror-Einsatz von Saint-Denis beschlichen - dass das längst nicht alles war. Und sie fürchten, dass auch der Tod des mutmaßlichen Drahtziehers, Abdelhamid Abbaaoud, nicht das Ende ist.
Gleich am Samstag - einen Tag nach den Anschlägen - sind einige Museen geschlossen geblieben, auch der berühmte Jardin des Plantes. Die bei den Parisern beliebten Wochenmärkte werden abgesagt. Stadtführer annullieren ihre Führungen: Heute kein Eiffelturm, keine Notre-Dame.
An der Ecke Rue Bichat/Rue Alibert sammeln sich gegen Mittag immer mehr Reporter. Fünf Straßen laufen hier zusammen, eine kleine Kreuzung, so schmal, das gerade mal ein Wagen hindurchpasst. Mittags stehen Dutzende auf der Kreuzung. Sie legen Blumen nieder, zünden Kerzen an. Viele haben rote Augen, blicken hilflos umher, lehnen sich aneinander. Ein Student mit bleichem Gesicht erzählt, dass er in der Nähe wohnt und die Schüsse gehört hat. Er erzählt vom Lärm, vom Chaos, vom Aufruhr. Dann von Blut und Toten. Seine Hände zittern so sehr wie seine Stimme.
Am Sonntagabend kommt es an der Place de la République zu einer Massenpanik. Wahrscheinlich aufgrund einer platzenden Glühbirne, auf die ein Polizist mit dem Ziehen seiner Waffe reagiert. Einige fangen an zu rennen, irgendwer schreit, es werde geschossen, das Ganze wird getwittert, und innerhalb von 30 Sekunden herrscht in allen Arrondissements zwischen der Place de la République und dem Marais die totale Panik. Kauernde Grüppchen in Hauseingängen, Restaurantbesitzer, die ihre Gäste in den Keller scheuchen, Leute, die mitten auf den Boulevards ihre Autos stehen lassen und so panisch in die Supermärkte flüchten, dass Regale umstürzen.
Immer wieder blitzt der Schrecken auf, dass diese Anschläge mitten aus Frankreich kamen. Die meisten der bereits identifizierten Attentäter stammen von hier, aus der Umgebung von Paris. Zum Beispiel Samy Amimour, einer der Terroristen, die im Bataclan auf die Gäste geschossen und sich am Ende selbst in die Luft gesprengt haben. Er war Busfahrer, fuhr auf der Linie 189 von Bobigny nach Drancy. “Wenn die aus Syrien kommen, oder durchgeknallte Belgier, okay. Aber das - der hat uns alle durch die Gegend gefahren?!”, sagt ein Fahrgast, eine Medizinstudentin.
Wie schon nach den Anschlägen auf die Redakteure von Charlie Hebdo und den Morden im jüdischen Supermarkt kommen die Menschen stumm zusammen. Und doch ist es anders als im Januar. Zum einen, weil viel weniger kommen. Klar, diesmal wird an vielen Orten in der Stadt getrauert, vor den Anschlagsorten, den Cafés, den Restaurants, dem Bataclan. In Notre Dame. Vor den Schulen und Universitäten. Es versammeln sich aber auch weniger Leute, weil die Angst größer ist. Die Strategie des IS - „Zerstört ihre Betten, macht ihre Leben bitter“ - ist auf furchtbare Weise aufgegangen. Das Pariser Hintergrundgeräusch ist momentan Sirenengeheul.
Wenn potenziell jeder Busfahrer aus Drancy ganz Paris in den Abgrund steuern kann, herrscht irgendwann ein Gefühl permanenter Unsicherheit. Die Angst hat die Stadt im Griff, und die Politik reagiert darauf: Frankreich gürtet sich mit Stahl, fliegt täglich Angriffe gegen IS-Stellungen, die Medien beten Kriegsrhetorik herunter, François Hollande hat den Notstand verhängt, mittlerweile haben die Abgeordneten ihn um drei Monate verlängert - das gab es zuletzt 1958.
Zwischen 5000 und 11 000 Leute, die - wohlgemerkt ohne richterliche Überprüfung - als Terrorverdächtige gelten, sollen in Zukunft mit Hausarrest oder elektronischen Fußfesseln belegt werden dürfen. Als Anfangsverdacht soll schon reichen, Bekannter eines Verdächtigen zu sein. Marc Trévidic, ein Richter, der in den vergangenen Monaten mehrmals eindringlich vor großen Anschlägen gewarnt hatte, warnt nun ebenso eindringlich davor, nicht denselben Fehler zu machen wie die Amerikaner nach 9/11. Muslime gerieten unter Generalverdacht.
Montagabend, eine Seitenstraße im 11. Arrondissement. Hier betreibt der Krimiautor und Journalist Karim Miské mit Freunden und Freundinnen ein Kulturcafé. Sie haben zu einem offenen Abend geladen, wer will, kann Texte vortragen. Verschiedenste Migrationshintergründe schieben sich bei dieser Lesung übereinander, aber leitmotivisch tauchen drei Dinge in den Texten auf: Der unbedingte Wunsch, jetzt nicht allein zu sein, denn zu Hause warten eh nur die Angst und die Trauer. Mehrmals kommt der Satz: Ich habe mich noch nie so sehr als Franzose/Französin gefühlt. Und diese Szene: Anrufe aus Beirut, Algier, dem Gazastreifen, Verwandte, die besorgt fragen, ob alles in Ordnung sei. Das, sagt Sofia Anioune, sei doch bisher immer andersrum gewesen. “Wir rufen aus unserem sicheren Hafen in den Kriegsgebieten an. Aber vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen.”
Der Weg ins Hotel führt um Mitternacht an der menschenleeren Place de la République vorbei. An deren Rand steht eine riesige Wand: Ein Bauzaun, zwölf Meter breit, wurde am Morgen nach den Anschlägen von der Sprayergruppe Grim Team besprüht. Schwarzer Hintergrund, darauf in weißen Lettern: “Fluctuat nec mergitur”. Sie mag schwanken, aber sie geht nicht unter, so lautet das frei übersetzte Motto der Stadt seit 1853. Daneben das dazugehörige Wappen: ein Schiff in hohen Wellen.