Éva tanzt
Da steht sie, zierlich, fast durchsichtig, und starrt in ihren Kühlschrank, groß wie ein Container, vollgestopft mit Essen, als gälte es, Horden von Menschen durch den Winter zu füttern. „Na freilich, soll ja keiner verhungern“, sagt Éva Fahidi und fasst mit schlanken Fingern hinein in die Kälte.
Wo fangen wir an, beim Käse, beim Joghurt, beim Fleisch? Oder gleich in Auschwitz, dem verdammten, alles beherrschenden Auschwitz?
Éva Fahidi holt jetzt erst mal einen Joghurt aus dem Kühlschrank, kippt einen Schuss Mohnöl rein, noch einen kleinen hinterher. Das gibt Kraft, sagt sie, hebt den Arm, spannt ihren Bizeps an, wie Popeye mit schlohweißem Haar. „Du wirst es nicht glauben“, sagt sie, kratzt den Joghurtbecher aus, das Mohnöl, die Kraft, hört gar nicht mehr auf mit der Kratzerei. „Ich tanze jetzt.“
Éva Fahidi, geboren am 22. Oktober 1925 in Debrecen, weit im Osten Ungarns, die am 1. Juli 1944 im Morgengrauen zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer kleinen Schwester Gilike, Tante Margit, Onkel Antal, Cousine Boci und Bocis Mann Lajos und Baby Ferike an der Rampe in Auschwitz-Birkenau aus dem Viehwaggon gezerrt wurde, tanzt jetzt also, auf einer Bühne, vor Publikum, das erste Mal in ihrem Leben. „Es ist ein Duett über mein Leben und meinen Holocaust“, sagt sie, schaut auf die Uhr. In ein paar Stunden geht es wieder los, sie muss jetzt bald zum Theater fahren, sich aufwärmen, Dehnübungen, ein alter Körper braucht seine Zeit.
Der Kopf übrigens auch. Man fährt nicht einfach mal so hinüber zum Vígszínház Theater und erzählt davon, wie die kleine Schwester schwieg auf der Fahrt ins KZ, wie sie in diesem Viehwaggon saß, Gilike, ihren Lieblingsschemel, ihren Lieblingsteddy und ihre Käthe-Kruse-Puppe im Arm. 80 Menschen und ein Eimer, der bald schon voll war. Die Toten, die mit ihnen fuhren, Rücken an Rücken. Mit der Erinnerung kommt der Gestank zurück, die Hitze, die Zunge, die am Gaumen klebt. Und mittendrin Gilike, elf Jahre alt, lautlos. „Ich wünschte mir so, sie würde schreien, weinen, die Haare raufen, aber nichts. Gilike schaute nur. Solange ich lebe, sehe ich diesen Blick.“
Wie naiv sie waren, sie hatten auf dem Weg nach Auschwitz immer noch Hoffnung. Es wird dort Arbeit geben, wir sind jung, stark, fleißig, werden zusammenbleiben, und dann fahren wir zurück nach Hause. Éva Fahidi schüttelt den Kopf. „Wir waren hoffnungsvoll, optimistisch, das ist die Wahrheit.“ Selbst Gilike sprach wieder, als sie endlich ankamen, die frische Morgenluft, das Licht, die vielen Deutschen Schäferhunde auf der Rampe. Zu Hause hatte Gilike auch einen Deutschen Schäferhund, Mucki. Das war das letzte, was sie von der Schwester hörte. Die Hunde, die schönen Hunde. Bis Mengele kam und eine Handbewegung machte.
Zwanzig Minuten, dann war Éva Fahidi kahl geschoren, am ganzen Körper enthaart, mit einem Desinfektionsmittel abgespritzt und alleine auf der Welt. Sie wusste es nur noch nicht.
„Ich weiß, ich weiß, ich habe nur ein einziges Thema, den Holocaust. Mein Leben ist Auschwitz“, sagt Éva Fahidi, hebt die Arme, lässt sie durch die Luft schweben. Ja, sie tanzt jetzt ihr Lebenstrauma. Warum nicht. Sie hat beschlossen, nicht nur über Auschwitz zu reden und über Auschwitz zu schreiben, sondern jetzt auch über Auschwitz zu tanzen. Mit 90. Sie lächelt: „Verrückt, nicht wahr?“
Wer einmal einem Toten das Brot aus den Händen gebrochen hat, um nicht zu verhungern, hat einen anderen Blick auf das Essen. Auf das Leben sowieso.
Das alles war lange genug in ihr verschlossen. 59 Jahre konnte sie nicht darüber reden. Kein Wort über die Gaskammern, kein Wort über die Rampe, auf der die Tragödie ihres Lebens geschah, ohne dass sie es merkte. Kein Wort über die Mutter, von der nichts blieb als ein Hemdchen, rosa, reine Seide. Ein großer Schatz, ein Ding, das die Mutter berührt hatte. Aber sie zerlegte es über die Jahre, in einzelne Stücke, einzelne Fäden, wie besessen, verbrannte den Rest.
Die Mutter war so jung, so stark, so arbeitsfähig. Sie war erst 39, aber sie hatte Gilike an der Hand, die kleine Gilike. Bitte links, bitte rechts. Die Nazis wollten kein Geschrei auf der Rampe, keine Dramen. Niemand wurde auseinandergerissen, dann lieber vergast. Ein Leben lang hat sich Éva Fahidi gefragt, was die Mutter gemacht hätte, wenn sie in dieser Sekunde gewusst hätte, was kommt, wenn man sie gefragt hätte, willst Du mit Éva ins Leben gehen oder mit Gilike in die Gaskammer?
Die Mutter wäre mit der kleinen Schwester in den Tod gegangen, da ist sich Éva Fahidi sicher. „Mutti wollte nicht stark genug am Leben bleiben, sonst wäre sie bei mir geblieben. Selbst wenn sie es gewusst hätte, wäre sie mit in die Gaskammer gegangen, um die Kleine dort nicht alleine zu lassen.“
Sie war über 70, als sie der Mutter verzeihen konnte. „Ich habe das so erlebt, dass mich meine Mutter betrogen hat, sie hat mich betrogen“, sagt sie und geht rüber ins Wohnzimmer, macht das Licht an, deutet auf ein Foto an der Wand. Mutter, Vater, Éva und Gilike. Es gibt nur dieses eine Bild von der Familie. Éva Fahidi hat es 59 Jahre lang nicht angeschaut, nicht aufgehängt. Sie war zum Leben verurteilt. So empfand sie das, als Verurteilung. Weil man nie aufhört, sich zu fragen: Warum ich? Warum nicht die anderen?
Was sie jetzt weiß: Kein Leben ist lang genug, um jemals zu vergessen. Aber es kann lang genug sein, um zu lernen, damit zu leben.
Am 1. Juli 2003 fuhr sie das erste Mal in die Gedenkstätte Auschwitz, dorthin, wo die Asche ihrer Familie liegt, verstreut im Irgendwo, von Millionen Menschen übertrampelt, Mutti, Vater, Gilike. 59 Jahre später, auf den Tag genau. Warum? Weiß sie nicht mehr. Aber plötzlich war ihr klar, dass es nur eine Lösung gab, um weiter zu leben: Es muss heraus, heraus, heraus, reden, schreiben, schreien, tanzen, egal wie, es muss raus. „Wenn ich das nicht losgeworden wäre, wäre ich schon lange im Irrenhaus.“
Seitdem macht Éva Fahidi nichts anderes, sie redet über ihr Trauma, sie kann nicht anders, es schwappt aus ihr heraus, immer wieder, oft mit den immer gleichen Worten. Sie sagt, es gibt nichts anderes mehr zu tun für sie auf der Erde, als darüber zu reden. Und: Es tut nicht mehr weh.
Du lieber Himmel, sie schaut auf die Uhr, sie muss jetzt los. Es ist eine kleine Bühne, weit oben im Vígszínház Theater in Budapest, ein schwarzer Raum, ein paar Stühle am Rand, und Wassergläser, überall gut verteilt. Sie trinkt einen Schluck, wann immer es geht, sie haben das Wassertrinken auch in Szenen eingebaut. Ein bisschen Rücksicht muss sie dann doch nehmen auf ihren Körper. „Ich sage Dir, es hat sich gelohnt, 90 Jahre alt zu werden“, sagt sie, bevor sie in der Garderobe verschwindet. Éva Fahidi steht an der Tür, wie sich das gehört bei einer Künstlerin.
Emese Cuhorka ist schon da, sie ist Tänzerin, 32 Jahre alt. Éva Fahidi war jahrzehntelang Außenbeauftragte des ungarischen Stahlkombinats, sie ist 90. Dazwischen liegen fast 60 Jahre. Eine Holocaustüberlebende tanzt mit einer jungen Frau die Shoah. Es ist eine ziemliche Sensation. In vielen Medien wurden sie dafür gefeiert.
Nur die Rechtsextremen pöbelten wie gewohnt. Alles gelogen, schrieben sie ins Internet. Éva Fahidi, eine Lügnerin, Auschwitz, eine Lüge. Man kennt das ja. „Stell Dir vor, der Tanz, sie haben geschrieben, dass man jetzt sehe, was für eine Lügnerin ich bin. Sie behauptet, sie wäre 90 Jahre alt.“ Dann lacht Éva Fahidi, ihr ganzer schmaler Körper bebt. Jetzt sei sie entlarvt, stand da, weil doch klar sei, dass sie nicht über 65 Jahre alt sein könne, so wie sie da herumturnt. Wenn sie 80 geschrieben hätten, wäre das auch schon lustig, aber 65. Das ist ein Vierteljahrhundert her. „Es ist lächerlich, aber so was Schönes, oder?“
Das Vígszínház Theater ist auch an diesem Abend voll. Es war bis jetzt immer ausverkauft, nicht einmal ein Kissen ist mehr zu haben, geschweige denn ein Stuhl. Éva Fahidi kommt herein, weiße Turnhose, weißes T-Shirt, weißes Haar, die knorrigen Füße tapsen über roten Theaterboden. Emese Cuhorka treibt sie an, Bauch rein, Rücken gerade, wie schläfst du, an was denkst du, konzentrier dich.
Was sind Deine Pläne, Éva?
Ein Buch über den Kommunismus schreiben, ich werde es zu meinem 100. Geburtstag fertig haben. Und dann werde ich mich betrinken.
Was würdest du für ein Kostüm tragen auf einer Verkleidungsparty, Éva?
Ich würde das Storchenkostüm meiner Mutter tragen. Ich glaube, sie trug es so gerne, um ihre langen Beine zu zeigen, in knallroten Strümpfen.
Es wird viel gelacht an diesem Abend, in diesem Theater, in diesem Stück über den Holocaust. 60 Jahre liegen zwischen den zwei Frauen – und der Krieg, und das KZ.
Éva Fahidi erzählt vom Umtata der Mädchenband, die in Auschwitz-Birkenau jeden Tag live Julius Fučiks Triumphmarsch „Einmarsch der Gladiatoren“ spielte. Jeden Morgen, wenn die Zwangsarbeiter durchs große Tor zur Arbeit wankten, spielte das Skelettkapellchen auf, und jeden Abend, wenn die Lebenden zurückkehrten, eine Band aus Haut und Knochen. Dann kamen sie, die Gladiatoren, mit Kniescheiben groß wie Melonen.
Und Emese Cuhorka? Erzählt von ihrer Waschmaschine, die macht, was sie will.
Éva Fahidi erzählt von ihren Haaren, die nicht mehr wachsen wollten im KZ, weil der Köper auf Sparmodus fährt, wenn er verhungert.
Emese Cuhorka erzählt vom Tod der Großmutter. Es ist das Schlimmste, was bis jetzt passiert ist in ihrem Leben.
„Es ist seltsam, wenn dein Leben zu einem Text in einer Performance wird“, sagt Éva Fahidi. Und es ist harte Arbeit, das Auswendiglernen, das Tanzen. Aber es ist auch irgendwie eine Verjüngungskur. Als sie anfingen mit den Proben im März 2015, konnte sie ihren rechten Arm nicht nach oben strecken. Jetzt geht es. Sie hebt den Arm, dehnt ihn immer weiter, schaut ihn an, ihren erhobenen Arm. Na freilich.
Als die Tänzerin, Mathematikerin und Choreografin Réka Szabó – die das Budapester Tanzprojekt The Symptoms leitet – Éva Fahidi fragte, ob sie sich vorstellen könne, bei einer modernen Tanzperformance mitzumachen, hat sie nicht lange überlegt. Szabó hat dann die Tänzerin Emese Cuhorka zu Éva Fahidi in die Wohnung gebracht. Die zwei haben sich gesehen und sofort angefangen zu tanzen, zu improvisieren, auf knarzendem Parkett. So ist das jetzt auch auf der Bühne, das Stück ist eine Art Zwiegespräch, ein Duett. Es gibt Szenen, in denen Emese Cuhorka die fast 60 Jahre ältere Éva Fahidi in einem Bürostuhl herumwirbelt. Es gibt Szenen, in denen sie Éva Fahidi in den Armen hält wie ein kleines Kind. „Sea-Lavender oder Die Euphorie des Seins“ heißt das Stück, weil in Éva Fahidis Kindheit ganze Felder um Debrecen herum lila waren, voller Sea-Lavender, Strandflieder. Sie erinnert sich an den herben, eigenartigen Duft. Denn auch darum geht es, um Erinnerungen, um die Liebe, um das Altern. Monatelang probten sie jeden Tag, den ganzen Sommer durch, in der größten Hitze. Das an die Grenzen gehen ist Éva Fahidis Überlebensstrategie. Sie sagt, sie könne es sich nicht leisten, sich von ihren Albträumen überrennen zu lassen, denn sie sind unkontrollierbar.
Sie hat noch so vieles vor. Jetzt gerade fand die Deutschlandpremiere in Berlin statt, auf Einladung des Internationalen Auschwitz Komitees, Anlass ist die Befreiung von Auschwitz, 71 Jahre her. Dann wird das Tanzstück in Erfurt gezeigt, dort, wo die Ingenieure von Topf & Söhne mit großem Eifer immer noch leistungsfähigere Öfen für Auschwitz bauten. Éva Fahidi wird ihren Auschwitz-Monolog auf deutsch sagen, in dieser aus der Zeit gefallenen Sprache, die sie spricht.
40 Kilogramm wog Éva Fahidi, als sie am 28. März 1945 beim Todesmarsch aus dem Lager Münchmühle, einem Außenlager des Konzentrationslager Buchenwald, einfach im Gras sitzen blieb. Das war es. Sie konnte nicht mal mehr kriechen. 40 Kilo ist nicht viel für ein Mädchen, 175 Zentimeter groß. Im Oktober 1945 saß sie dann wieder in einem Viehwaggon, diesmal fuhr sie aus Deutschland zurück nach Debrecen. Sie hatte nur einen Zettel, auf dem stand, wer sie ist. Unter ständiger Wohnort stand: Todeslager Auschwitz-Birkenau. Und unter Beschäftigung: ehemaliger Häftling. Das war ihre Identität.
Irgendwann auf dieser Fahrt hatte sie Geburtstag. „Stell Dir vor, ich habe meinen 20. Geburtstag, und es gibt keinen einzigen Menschen auf der Welt, der wusste, dass ich heute meinen 20. Geburtstag habe“, sagt Éva Fahidi nach der Vorstellung. Sie ist jetzt müde, wie ausgelaugt. Sie will nach Hause.
Autorin: Karin Steinberger
Kamera/Ton: Johannes Schäfer
Schnitt/Web-Umsetzung: Florian Zinnecker