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    Das Mittelmeer

    Edition 46

    Süddeutsche Zeitung Magazin

    Mitte November erscheint jedes Jahr die Edition 46 des Süddeutsche Zeitung Magazins. Es ist unsere Kunstausgabe, die auf eine lange Tradition zurückblickt. Diesmal steht kein einzelner Künstler im Zentrum des Hefts, sondern ein geografischer und kultureller Raum: das Mittelmeer.

    Als Verbindung zwischen Südeuropa, Nordafrika und Vorderasien ist es seit Monaten Brennpunkt und Dauerthema in den Nachrichten. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht unzählige Bilder von den Küsten Italiens oder Griechenlands auf unsere Bildschirme geliefert bekommen. Dieselben Orte, an denen wir uns jedes Jahr aufs Neue auf Liegestühlen erholen, sind voll mit verzweifelten Menschen aus Eritrea, Libyen, Syrien. Sie kommen mit Booten übers Wasser - wenn sie kommen - und nicht auf der Überfahrt ihr Leben lassen.

    Das Mittelmeer ist zu einem Symbol geworden. Wofür, das muss sich noch zeigen: Brücke oder Grenze? Chance oder Verhängnis? Für die Edition 46 haben wir Künstlerinnen und Künstler aus 16 Anrainerstaaten gebeten, je eine Arbeit zum Thema Mittelmeer für das Süddeutsche Zeitung Magazin zu produzieren. Wer die Werke genau betrachtet, wird das Konfliktpotenzial dieses Kulturraums spüren, aber auch seine reiche Historie, seine identitätsstiftende Kraft - und einende Schönheit.

    Alle Arbeiten finden Sie auf dieser Seite – sowie ein großes Essay von Thomas Steinfeld, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Venedig.

    »In Algier, in der Nähe von Bab el Oued, gibt es einen Strand, den Jugendliche Rochers Carrés nennen. Er wurde in den Siebzigerjahren unter dem algerischen Präsidenten Houari Boumedienne errichtet und besteht aus vielen Betonblöcken, die als Wellenbrecher eingesetzt werden. Diese Steine sind riesig, vier Meter breit und drei Meter lang. Als Kind habe ich meine Sommerferien immer in Bab el Oued verbracht. Das Viertel gehört zu den ärmsten von Algier, die Jugendlichen hängen rum, kiffen, manche fischen ein bisschen, andere prostituieren sich. Vor allem aber sitzen sie stundenlang auf diesen Betonblöcken und starren aufs Meer, als seien sie von den vielen Schiffen hypnotisiert, die ganz langsam zwischen Algerien und Europa hin- und herfahren.

    Dieser Strand ist die ultimative Grenze, die sie von Europa und damit von ihren Träumen und Sehnsüchten nach einem besseren Leben trennt. Die mächtigen Betonblöcke kerkern sie ein in ihre eintönige und grausame Wirklichkeit – und wenn es doch einer schafft, das Meer zu überwinden und nach Frankreich, nach Paris zu kommen, dann landet er wo? In den tristen Vorstädten, in den Banlieues, wo er wieder von Beton eingekerkert wird.

    Je älter ich werde, desto skurriler finde ich, dass ich zwischen den Betonblöcken der Pariser Vorstädte aufgewachsen bin und jeden Sommer zwischen den Betonblöcken in Algier verbracht habe. Ich frage mich, ob die jungen Menschen auf den Fotos, die den Horizont in der Hoffnung nach einem Ausweg absuchen, wissen, in welch trostloser Umgebung sie letztlich landen werden. Da wie dort die gleiche Hoffnungslosigkeit, die gleiche sexuelle Frustration, der gleiche Mangel an Anerkennung, das gleiche Gefühl des Versagens und des Leidens.«

    Kader Attia wurde 1970 nördlich von Paris als Kind algerischer Eltern geboren. In seiner Jugend pendelte er zwischen Frankreich und Algerien, später studierte er Kunst in Paris und Barcelona. Seine Fotos und Installationen setzen sich vor allem mit dem Einfluss der westlichen Kultur und des Kapitalismus auf die Gesellschaften in Nordafrika und im Nahen Osten auseinander - sowie mit den Spätfolgen der Kolonialisierung auf die arabische Jugend. Attia lebt und arbeitet in Berlin und Algier.

    »›The real hero is always a hero by mistake; he dreams of being an honest coward like everybody else.‹ (›Der wahre Held ist immer ein Held aus Versehen, sein Traum wäre es, ein ehrlicher Feigling zu sein wie alle.‹) Dieses Zitat des italienischen Schriftstellers Umberto Eco ist der Ausgangspunkt für meine Arbeit mit dem Titel EROE.

    Der Mittelmeerraum ist die Wiege zahlreicher Helden, Jesus oder Mohammed, die ägyptischen Götter, die Helden der Antike – Herakles, Odysseus, Achilles. In der Mythologie geht es immer um Helden und ihre Taten. Der Held agiert an der Schwelle zum Tod. Was er tut, ist so bedeutsam, dass er sich durch seine Taten entwickelt und jemand anderes wird, und die Götter stehen ihm bei, weil er mutig ist. Gut möglich, dass der Held gar kein Held sein möchte. Es widerfährt ihm einfach. Es ist diese Unwissenheit, gepaart mit seiner Aufrichtigkeit, die einem Helden die Kraft gibt, im entscheidenden Moment über sich hinauszuwachsen. In Montenegro sagen wir: ›Na muci se poznaju junaci‹ – ›In schwierigen Zeiten zeigt sich der Held‹. In Montenegro bin ich mit den Geschichten dieser Helden auf- gewachsen. Heute muss ich feststellen: Es gibt sie nicht mehr. Vor 50 Jahren gab es sie noch: Willy Brandt, Charles de Gaulle, Martin Luther King, aber heute? Ich sehe nicht mehr die charismatischen und ritterlichen Figuren, die uns inspirieren und träumen lassen, die die Welt in eine andere Richtung lenken könnten. Unsere Helden heute, das sind Apple, Google und Facebook, auf jeden Fall internationale Konzerne. Wenn ich eine Apple-Filiale betrete, komme ich mir vor wie in einer Kirche; alles ist verglast und symmetrisch, uniformierte Apple-Mitarbeiter warten auf ihre Kunden wie ein Priester auf die Gläubigen. Meine Skulptur EROE soll an die Zeit wahrer Helden erinnern.

    Es war mir wichtig, dass sie aussieht, als hätte man sie auf dem Meeresboden gefunden, als handelte es sich um eine Reliquie, vielleicht aus Bronze, aus einer untergegangenen Epoche, die jahrhundertelang auf dem Meeresgrund gelegen hat.«

    Aleksandar Duravcevic, geboren 1970 in Montenegro, emigrierte nach dem Ende des Jugoslawienkrieges in die USA und lebt heute in New York. Einige seiner Arbeiten gehören zur Sammlung des Metropolitan Museum of Art in New York. Bei der 56. Kunstbiennale in Venedig war Duravcevic in diesem Jahr der Repräsentant von Montenegro.

    SZ-Magazin: Als wir Sie baten, für uns eine Arbeit zum Thema Mittelmeer zu machen, haben Sie sich für einen Comic entschieden. Warum?
    Francesc Ruiz: Mit Comics kann ich am besten ausdrücken, worum es mir geht. Comic ist – genau wie Fotografie, Film oder Literatur – ein Medium mit einer eigenen Grammatik und Geschichte. Ich spreche nicht von Pop Art, sondern einer Sprache, die sich ständig wandelt und mit der man jedes Thema behandeln kann. Comics sind sehr flexibel – ideal, um mit ihnen herumzuexperimentieren.

    Warum steht Tiramolla im Mittelpunkt Ihres Beitrags, eine Comicfigur, die in Italien sehr populär ist?

    Mich faszinieren Comicfiguren, deren Körper verschiedene Formen annehmen können. Tiramolla wurde 1952 vom italienischen Zeichner Roberto Renzi geschaffen. Zuerst war Tiramolla der Held einer Serie, später auch eines eigenen Hefts. Er besteht nur aus Linien und kann sich vergrößern, verkleinern, also in die Länge ziehen oder schrumpfen. Für mich ist das die Essenz von Zeichnen: Wenn jemand mit seinem eigenen Körper zeichnet. Bei mir ist Tiramolla eine Art Kartograf, der Grenzen verschiebt, verschwinden lässt und neu zieht. Man könnte sagen, er ist die Natur, von mir aus Gott, auf jeden Fall kann er die Welt immer wieder neu erschaffen. Seine Identität ist nicht festgelegt, sondern liquide, und wenn er am Ende erschöpft in die Sterne schaut – ironischerweise sind auch die Sternbilder von uns Menschen definiert – lässt er uns darüber nachdenken, was das eigentlich ist: Grenzen, und wie absurd und grausam im Grunde alles ist, was wir den ganzen Tag so festlegen.

    Wie könnte eine Welt ohne Grenzen aussehen?
    Die Fantasie ist ein mächtiges Werkzeug, sagt Tiramolla. Ich glaube, dass es wichtig ist, keine Angst zu haben, wenn man darüber nachdenkt, ob unsere Welt nicht auch ganz anders aussehen könnte. Tiramolla verursacht eine große Sauerei, vielleicht brauchen wir genau das, um die Welt in Ordnung zu bringen.

    Francesc Ruiz wurde 1971 in Barcelona geboren. Er kombiniert in seiner Arbeit Comicelemente mit Strategien der Konzeptkunst. Für die Ausstellung »KABOOM! Comic in der Kunst« baute er einen Zeitungskiosk in Originalgröße und befüllte ihn ausschließlich mit von ihm selbst entworfenen Zeitschriften. Ruiz war Teilnehmer der 56. Kunstbiennale in Venedig.

    SZ-Magazin: Sie haben uns vier Fotografien geschickt, die ein wenig an Gemälde von Mark Rothko erinnern. Sind das Fußböden?
    Yto Barrada: Ja, das sind Nahaufnahmen vom Filzteppichboden eines Zirkus in Tanger. Der Boden dort sieht aus wie eine Collage oder Montage. Die Farben und die Verknüpfung der verschiedenen Stücke sind fantastisch, oder? Diese Böden werden ständig ausgebessert. Da wird nichts weggeworfen, sondern immer nur ein neues Teil dazugefügt oder drangeklebt. Das ist, wie wenn man ein Loch im Pullover hat und einen Stoffrest draufnäht.

    Diese Recyclingtechnik ist charakteristisch für afrikanische Länder, oder?
    Ja. In Marokko wird alles repariert, ausgebessert, geflickt und wiederverwendet, egal ob das Autos, Kleidung oder Möbel sind. Wer arm ist, macht das eben so. Es handelt sich erst mal um eine Notwendigkeit, die aber allmählich zur Kultur wird. Denken Sie nur an die vielen Plastikstühle, die ständig zurechtgebogen werden müssen. Es geht dabei nicht nur darum, einen Schaden zu beheben. Eher findet eine Transformation statt, wodurch sich für mich als Künstlerin viele Metaphern ergeben.

    Sie sprechen von Grenzmetaphern?
    Natürlich geht es um Ränder und Grenzen, die offen oder geschlossen sind, aber lassen wir das, ich möchte meine Arbeit nicht interpretieren. Ich habe nach etwas gesucht, das dieses Paradox in sich trägt, gleichzeitig weich und glatt, aber auch brutal zu sein. Der Boden ist zerschnitten und geflickt, aber nicht zerrissen. Ich musste an die Gewalt gegenüber Frauen denken. Auch Frauen werden genäht, um ihre Jungfräulichkeit wiederherzustellen. Diese Art der Stiche, die gebrandmarkten Körper, die Narben – in diesen Bildern stecken unzählige Metaphern.

    Yto Barrada, geboren 1971 in Paris, studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Sorbonne und Fotografie in New York. Ihre Fotos, Videos und Skulpturen sind regelmäßig in bedeutenden Museen ausgestellt, zum Beispiel in der Tate Modern in London, im Museum of Modern Art in New York oder im Centre Georges Pompidou in Paris. Barrada lebt in Tanger, Marokko.

    SZ-Magazin: Sie kommen aus Bologna, leben aber momentan in Barcelona. Wo sind die Bilder entstanden, die in diesem Heft zu sehen sind?
    Mattia Insolera: An unterschiedlichen Orten rund ums Mittelmeer. Vor ein paar Jahren wollte ich zusammen mit einem Freund, der Skipper ist, mit dem Segelboot von Bologna zu den Kanarischen Inseln fahren. Als wir nach ein paar Wochen die Straße von Gibraltar erreichten, merkte ich, dass ich es gar nicht so toll fand, tagelang übers offene Meer zu segeln. Was an den Küsten passierte, interessierte mich viel mehr. Es war der Moment, in dem ich beschloss, die nächsten Jahre damit zu verbringen, den Mittelmeerraum zu bereisen und die Menschen zu fotografieren, die in ihm leben.

    Wo waren Sie überall?
    Insgesamt habe ich in 13 Ländern fotografiert: Gibraltar, Spanien, Algerien, Frankreich, Italien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Libanon, Griechenland, Marokko, Kroatien und Türkei. Ich wollte keine Enzyklopädie anfertigen, mir ging es nicht um Vollständigkeit. Als ich das Gefühl hatte, alle Puzzleteile zusammenzuhaben, um die Logik dieser Länder und Menschen zu verstehen, hörte ich auf.

    Gerade haben Sie einen Bildband publiziert. Titel: 6th Continent.
    Es gibt einen Roman des türkischen Schriftstellers Cevat Sakir, der genauso heißt. Und es stimmt: Das Mittelmeer funktioniert wie eine Art sechster Kontinent. Die Menschen, die hier leben, sind aus anthropologischer Perspektive weder Europäer noch Afrikaner oder Asiaten. Für die meisten Leute sind die Küsten Italiens, Spaniens und Griechenlands Sehnsuchtsorte, die sie einmal im Jahr ansteuern, um zu baden und sich zu erholen. Und dann gibt es die Menschen, die das ganze Jahr hier leben, vom Fischfang oder vom Tourismus, und die Migranten, die ihr Leben riskieren, um auf die andere Seite dieses Meeres zu gelangen.

    Haben Sie bei Ihren Reisen das Meer eher als Grenze oder als Brücke empfunden?
    Ich glaube, da hat sich was verschoben. Heute wird das Mittelmeer wie eine Grenze oder ein Graben zwischen dem Norden und dem Süden wahrgenommen. Das war nicht immer so. In der Antike war das Mittelmeer eine riesige Autobahn für Menschen, Güter und Ideen, es war ein, wenn nicht das Zentrum der Welt. Es verband die Kontinente und transportierte Zivilisation, Bildung, Handel, Wissen, Kultur in die entlegensten Winkel der Erde. Mich hat die Realität interessiert, die wir jeden Tag in den Nachrichten sehen, aber auch die Suche nach Überresten von Tradition und Mythologie.

    Hat sich Ihre Perspektive auf das Mittelmeer verändert, je nachdem, ob Sie in Südeuropa oder Nordafrika gearbeitet haben?

    Bezogen auf die Mentalität der Menschen, habe ich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede entdeckt. Die Italiener, die Spanier, die Marokkaner, die Ägypter, sie alle haben so viele Eroberer und Reiche kommen und gehen sehen, so viele Kriege erlebt, dass sie fatalistisch geworden sind. Alle jammern, glauben aber auch, dass sich sowieso nichts ändert, und sagen: Okay, trinken wir erst mal ein Bier oder halt einen Tee, morgen ist auch noch ein Tag. Die Kulturen am Mittelmeer haben viel weniger Vertrauen in die Zukunft als jüngere, aufstrebende Gesellschaften. Sie haben ihre eigene Logik, ihre eigene Geschichte. Und vielleicht haben Menschen aus Süditalien viel mehr gemeinsam mit Menschen, die in Marokko an der Küste leben, als mit Menschen aus Mailand oder Turin.

    Mattia Insolera, geboren 1977 in Bologna, begann seine Karriere als Tourfotograf des italienischen Sängers Vasco Rossi. Insolera gewann zahlreiche Auszeichnungen, zum Beispiel 2009 den zweiten Platz beim World Press Photo Award. Gerade hat er einen Reportageband mit dem Titel 6th Continent herausgebracht - eine fotografische Reise rund um das Mittelmeer, auf der Suche nach dem Ursprung und einer aktuellen Definition des Meeres, das die alten Römer »mare nostrum« nannten. Insolera lebt in Barcelona.

    »Bertolt Brecht hat gesagt: ›Das Thema der Kunst ist, dass die Welt aus den Fugen ist.‹ Ich glaube, das stimmt. Wir kennen die Welt vor allem als Desaster und in Unordnung. Dieser bedrohliche Aspekt, dieser Verlust des Gleichgewichts, die Tatsache, dass die Dinge nicht mehr zu sein scheinen, wie sie mal waren, liegt auch in dieser Zeichnung. Wir leben in bebenden Zeiten.

    Umso aufmerksamer versuche ich, Momente der Wahrheit festzuhalten. Das Mittelmeer war zu allen Zeiten ein Schauplatz von Dominanz und Unterwerfung, von Konflikten, Aufständen und Vertreibungen. Denken Sie an den ewigen Kampf zwischen Rom und Karthago, denken Sie an die Kolonialisierung.

    Ich bin während des Studiums von Tunesien nach Paris gezogen. Seit ich zwischen den beiden Ländern hin- und herreise, spüre ich die Geschichte des Mittelmeerraumes gleichzeitig intensiver und objektiver. Die Zeit als Kreis, das Leben als Reise – wer könnte das besser nachvollziehen als die Vertriebenen, die es über die Barrieren geschafft haben?«

    Nidhal Chamekh wurde 1985 in Tunesien geboren und hat in Tunis und Paris Kunst studiert, heute lebt er überwiegend in Paris. Seine Familie wurde in Tunesien politisch verfolgt, seine ersten Zeichnungen stellte er bereits mit zwölf Jahren aus. Bei der diesjährigen 56. Biennale in Venedig war Chamekh mit zwei Arbeiten vertreten.

    »Ich kann nicht genau erklären, was meine künstlerische Arbeit geformt hat. Ich bin überzeugt davon, dass meine Kindheit, der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, und die Menschen, die mir nahe waren, einen Einfluss gehabt haben müssen. Und trotzdem sehe ich mich nicht imstande zu ergründen, warum mich heute diese oder jene Stimmung anzieht. Persönliche Geschichten verändern sich im Laufe der Zeit. Ich bin in Nikosia aufgewachsen, umgeben von meiner Familie und meiner Großmutter. Ich erinnere mich an viele Sommer, die wir am Strand oder in den Bergen verbracht haben, mit Freunden und meinen Cousins. Nach all den Jahren, die ich jetzt im Ausland lebe, fühle ich mich immer noch sehr zu meinem Geburtsort hingezogen, zu diesen Erinnerungen, der brennend heißen Sonne, den Schatten – den langen und dunklen Schatten, die viele Enden und neue Anfänge zu zeichnen schienen.«

    Haris Epaminonda, geboren 1980 in Nikosia, ist Fotografin, Video- und Multimediakünstlerin. Sie hat in London studiert, lebt in Berlin und stellte unter anderem auf der Documenta 13 in Kassel aus. Charakteristisch für Epaminondas Werk ist die Collagentechnik. Seit 2007 entwickelt sie gemeinsam mit dem deutschen Künstler Daniel Gustav Cramer ein Projekt mit dem Titel The Infinite Library, eine Art Archiv aus Büchern, die aus Seiten gefundener und gebrauchter Bücher neu gebunden werden.

    SZ-Magazin: Welche persönliche Verbindung haben Sie zum Meer?
    Tanja Deman: Ich komme ja aus Split, die Stadt ist 1700 Jahre alt und liegt an der Adria. Die Menschen dort leben mit dem Meer und vom Meer – Fischerei, Bootsfahrt, Tourismus. Ich würde schon sagen, dass das Meer zu einem Teil meiner Persönlichkeit geworden ist. Zu dieser Fotoserie namens Saltwater hat mich ein Skandal inspiriert: Die kroatische Regierung war drauf und dran, Konzessionen an Ölfirmen zu vergeben, die an der Adria nach Fossilbrennstoffen bohren wollen. Obwohl an der Küste alle dagegen sind. Das wäre verheerend geworden! Immerhin hat der öffentliche Druck jetzt dazu geführt, dass die Regierung alle diese Vertragsabschlüsse auf unbestimmte Zeit verschoben hat.

    Die Bilder sind also eine Art Aufschrei?
    Ja. Sie zeigen die unberührte und reiche, aber auch fragile und durch Ausbeutung hochgefährdete Wasserwelt. Öltransporte gelten als größte Bedrohung des maritimen Ökosystems, denken Sie nur an die Ölpest im Golf von Mexiko 2010. Wir alle wissen, dass solche Katastrophen immer wieder passieren. Würde so etwas vor Kroatien geschehen, würde das verseuchte Wasser die Küste Richtung Norden hinaufziehen und an der italienischen Küste wieder hinunter in Richtung Süden. Alle wären davon betroffen, absolut alle.

    Die Unterwasserwelt auf Ihren Bildern wirkt märchenhaft schön, aber auch etwas unheimlich.
    Es war das erste Mal, dass ich mit einer Kamera unter Wasser war. Schon wenn man an einen Strand kommt und das Meer vor sich sieht, ist das ein Moment der inneren Reinigung und Befreiung. Unter Wasser intensiviert sich dieses Gefühl. Aber ich weiß, was Sie mit unheimlich meinen. Sobald wir Menschen das Festland hinter uns lassen, sind wir in Gefahr. Das Meer ist riesig, es ist bedrohlich, war es immer, wird es immer sein. Natürlich ermöglichen moderne Technologien die Nutzung der Meere, wir fertigen riesige Tanker, errichten Ölplattformen, holen uns aus der Tiefe, was wir brauchen und wollen – aber der Einzelne, der sich dem Meer gegenübersieht: Das ist eine ganz andere Geschichte.

    Warum haben Sie sich für Schwarzweißfotografie entschieden?
    Farbe wäre zu verführerisch. Sie kann ablenken von den Details, um die es mir ging. Ich wollte die Topografie zeigen, die Räume und Landschaften unter Wasser, die Felsen, die Formen, die Oberflächen und vor allem das Wasser selbst. Auf den Schwarzweißaufnahmen wird deutlich: Es ist faszinierend da unten, aber ganz sicher nicht so gemütlich wie im Reiseprospekt.

    Tanja Deman, geboren 1982 in Split, hat in Zagreb und Rotterdam Kunst studiert. Sie arbeitet mit Fotografie, Video und Installationen im öffentlichen Raum. Ihre Arbeiten, die weltweit in Einzelausstellungen gezeigt werden, reflektieren die Psychologie und die Wechselwirkung von Architektur, Landschaft, Gesellschaft und Geschichte. 2015 hat sie den 73 Meter hohen Wiener Ringturm mit einer überdimensionalen Freibadszene verhüllt.

    SZ-Magazin: Sie haben zwei Gemälde für uns gemalt. Beim ersten wussten wir sofort: Das wird unser Cover, genau so sieht das Mittelmeer im Herbst 2015 aus.
    Stelios Faitakis: Ja, Touristen und Flüchtlinge, direkt nebeneinander, das ist die Realität. Wenn ich durch die Straßen von Athen laufe, sehe ich sie an jeder Straßenecke: Flüchtlinge, die nicht wissen, wie es weitergehen soll, und Touristen, die zwei Wochen lang in den Tag hineinleben wollen. Es ist bizarr, aber in Griechenland leben wir nun mal von unseren Stränden und Sonnenuntergängen.

    Sie haben aus dem Thema eine Art byzantinische Ikone gemacht.
    Das stimmt. Meine Arbeit hat starke Bezüge zum Byzantinismus, aber auch zur asiatischen Kunst, zur europäischen Kunst des Mittelalters und zum mexikanischen Muralismus, das ist eine spezifische Form von Wandmalerei im öffentlichen Raum. Ich habe früh angefangen, diese Einflüsse zu kombinieren, im Grunde schon in den Neunzigerjahren, als ich noch Graffiti gesprüht habe.

    Die Originale, auf die Sie sich beziehen, sieht man in der Regel in Kirchen.
    Ich bezeichne meine Arbeit auch als religiöse Kunst, weil die akribische Arbeit an jedem Detail meiner eigenen spirituellen Entwicklung dient. Arbeit als Gebet sozusagen.

    Das zweite Bild, das Sie für uns gemalt haben, trägt den Titel The Nudists.
    Es bezieht sich auf eine Szene aus dem Buch Crete: The Battle and the Resistance des britischen Historikers Antony Beevor. Die deutschen Fallschirmjäger, die 1941 auf Kreta gelandet sind, lagen – statt die Gefangenen zu bewachen – nackt am Strand und sonnten sich. Das war ein Schock für die einheimische Bevölkerung, für die Nacktheit ein Tabu war.

    Stelios Faitakis, geboren 1976 in Athen, war Mitte der Neunzigerjahre einer der Pioniere der griechischen Street-Art-Bewegung. Charakteristisch für seine Gemälde sind zahlreiche Anspielungen sowie der intensive Einsatz der Farben Gold und Silber - eine Reminiszenz an die byzantinische Ikonenmalerei.

    »Als Sie mich einluden, eine Arbeit zum Thema Mittelmeer zu machen, musste ich sofort an die Not der vielen Flüchtlinge denken, die das Risiko auf sich nehmen, diese gefährliche Reise über das Wasser anzutreten. Es ist so traurig, dass bereits so viele Menschen auf dieser Reise gestorben sind.

    Das Flüchtlingsproblem ist in den vergangenen Jahren wegen der ständigen Konflikte und Kriege im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika dramatischer geworden, aber das Phänomen ist nicht neu. Nicht erst seitdem jeden Tag in den Nachrichten darüber gesprochen wird, versuchen Menschen aus Krisenregionen, nach Europa zu gelangen. Vor gut zehn Jahren habe ich schon mal eine Arbeit zum Thema Wirtschaftsflüchtlinge und Menschenschmuggel gemacht. Es gibt auch einen Roman des palästinensischen Schriftstellers Ghassan Kanafani, der sich genau um dieses Thema dreht. Er heißt Männer in der Sonne und wurde in den frühen Sechzigerjahren publiziert. Das Buch handelt von der Mühsal und dem Kampf dreier Männer aus Palästina, die in einem leeren Wassertank auf einem Lastwagen quer durch die Wüste nach Kuwait geschmuggelt werden sollen. Am Ende sterben sie grausam in ihrem Versteck.

    Nachdem ich diesen Roman als junge Frau zum ersten Mal gelesen hatte, ließ er mich nicht mehr los. Und jetzt, vierzig Jahre später, zeigt sich, dass diese Geschichte aktueller ist denn je – und viel zu oft keine Geschichte, sondern Wirklichkeit.«

    Mona Hatoum, geboren 1952 in Beirut, ist eine palästinensisch-britische Künstlerin. Ihre wohl bekannteste Performance heißt Under Siege (1982). Darin kämpfte sie sieben Stunden lang in einem durchsichtigen Würfel mit Lehm und Schlamm – unter den Blicken der hilflosen Zuschauer. Mit der Videoarbeit Corps Etranger (1994) war sie für den Turner Prize nominiert. Darin filmt eine Kamera erst eine Körperoberfläche und dringt dann durch verschiedene Körperöffnungen ins Innere ein. Hatoum lehrte an renommierten Kunsthochschulen in Paris, Maastricht und London. Ihre Arbeiten sind Teil bedeutender Sammlungen, etwa der Tate Britain, des Museum of Modern Art, des Centre Georges Pompidou und des Kunstmuseums Basel.

    »Die drei Fotos gehören zu einer Serie, der ich den Titel Sunburn gegeben habe. Sie ist an allen möglichen Orten in Israel entstanden und zeigt scheinbar unbedeutende Momente, die für mich aber von tiefer Wahrheit sind und auf größere, globale Zusammenhänge verweisen. Ich wollte auf keinen Fall eine Art Porträt Israels zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigen. Die Bilder wurden in Israel aufgenommen, hätten aber genauso in Kalifornien entstehen können.

    Das Motiv, das die Fotos miteinander verbindet, ist die Hitze. Die elende Hitze ist einer der großen Diktatoren im Nahen und Mittleren Osten. Sie eint uns alle, egal ob wir in Gaza, im Westjordanland oder am Toten Meer leben. In den kommenden Jahrzehnten wird sich die Hitze auf weitere Regionen ausdehnen und zu einem global agierenden Diktator werden. Auf Bildern wird der Klimawandel meist durch vertrocknete Landschaften, leere Flussbetten oder sich ausbreitende Wüsten dargestellt. Ich wollte ihn in seiner Widersprüchlichkeit zeigen, in seinen positiven und negativen Folgen für uns Menschen, und zwar körperlich, seelisch, psychologisch, ästhetisch. Die Sonne wärmt und nährt und tröstet, sie verbrennt aber auch und hinterlässt Narben.

    Ein paar der Negative habe ich auf dem Rücksitz meines Autos liegen lassen, wo sie mehrere Tage lang in der Sonne lagen. Als ich sie fand, wollte ich sie erst wegwerfen, bis mir klar wurde, dass es genau diese Spuren der Verbrennung sind, die meinen Bildern gefehlt hatten.«

    Daniel Tchetchik wurde 1975 in Tel Aviv geboren. Dort studierte er Fotografie an der Camera Obscura University. Tchetchik arbeitet vor allem als Reportagefotograf, derzeit ist er außerdem Chefredakteur des Fotografie-Blogs der israelischen Tageszeitung Haaretz.

    »Hintergrund für diese Collage, aber unsichtbar für den Betrachter, sind vier Geschichten, eigentlich sind es Märchen, die ich geschrieben habe. Zu den Helden dieser Geschichten haben mich vier Männer inspiriert – einer ist mein Vater –, die ich seit Jahren kenne und beobachte, wie sie in der Bucht von Beirut schwimmen gehen.

    Jede der vier Säulen meiner Collage dreht sich um einen dieser Helden, die dazugehörigen Geschichten basieren lose auf Aussagen der echten Männer, die ich mit meinen Fantasien vermischt habe: Da ist zum Beispiel Abo Raouché, der seinen Namen vom berühmten Felsen von Raouché geliehen hat, dem sogenannten Taubenfelsen. Oder Abo Hassan, ein Mann mit vielen Geheimnissen. Dann Abo Lakit, der an einen riesigen Stein gebunden ins Meer geworfen wird, wo er ertrinkt. Und zuletzt Abu Ali Bu/tin. So wird Putin gerade von einigen hier genannt. Es ist eine Art Spitzname. Aber ein hochinteressanter, wenn man bedenkt, dass die Araber in den Dreißigerjahren auch Hitler Abu Ali genannt haben.«

    Mounira Al Solh, geboren 1978 in Beirut, nimmt in der libanesischen Kunstszene eine Sonderstellung ein, weil ihre Arbeiten, die gesellschaftspolitische Themen wie Migration und sozialen Eskapismus behandeln, fast immer von Humor und Leichtigkeit getragen sind. Sie bringt das Magazin NOA (Not Only Arabic) heraus, das nicht gekauft, sondern nur nach Terminvereinbarung eingesehen werden kann. Al Solh lebt und arbeitet in Beirut und Amsterdam.

    »Der Konflikt in Syrien ist eine Katastrophe, die eine noch furchtbarere mit sich bringt: Menschen fahren auf Booten übers Mittelmeer freiwillig in den Tod. Denke ich daran, bin ich verzweifelt, den Tränen nahe, und bringe keine Kraft für Pinselstriche auf. Und dann wieder macht mich dieser Krieg so wütend, dass ich nicht anders kann als zu zeichnen.

    Ein Totenschädel – das ist das Gesicht des Todes. Die persönliche Geschichte jedes einzelnen Sterbenden kann ich gar nicht fassen. Ich sehe nur den Massenmord, verursacht durch das Militärregime und den religiösen Faschismus. Beide Übel sind gleich groß. Also habe ich einen Nagel für Assad und einen für den Islamischen Staat gezeichnet. Sie stecken in Kinn und Schläfe des Totenkopfs.

    Mein Vater und mein Großvater waren beide Staatsmänner. Ich selbst mache seit vierzig Jahren politische Kunst. Auf meiner ersten Arbeit, die ich für eine linke libanesische Zeitschrift gemalt habe, läuft der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson verzweifelt aus einem Wald in Vietnam. Heute male ich nur noch Tod in Schwarz und Weiß. Ich male leblose Fische, Vögel und Lämmer, schöne, unschuldige Tiere, die den Tod weniger verdienen als Wölfe oder Löwen. Je länger die Gewalt in Syrien andauert, desto destruktiver wird meine Kunst. Die Vögel sind geköpft, die Fische mit Messern aufgespießt, die Lämmer mit Nägeln malträtiert. Diese Tiere, das sind die vielen unschuldigen Menschen, die in Syrien jeden Tag geopfert werden. Manchmal pinsele ich am Ende rotes Blut über meine Zeichnungen.«

    Youssef Abdelke gehört zu den bedeutendsten Künstlern Syriens. Immer wieder wurde er eingesperrt, zuletzt 2013, nachdem er eine Petition gegen den Präsidenten Baschar al-Assad unterzeichnet hatte. Während Millionen von Menschen aus Syrien fliehen, lebt und arbeitet Abdelke weiter in der Hauptstadt Damaskus.                                                          

    »Diese Zeichnung ist ein Teil eines größeren Projekts mit dem Titel Cabaret Crusades, mit dem ich während der vergangenen fünf Jahre versucht habe, die Geschehnisse der mittelalterlichen Kreuzzüge aufzuarbeiten. Es handelt sich um eine Videoinstallation, die in drei Kapitel aufgeteilt ist. Jeder Teil hat seine eigene Ästhetik, Sprache, Musik und Szenerie, stellvertretend für verschiedene Phasen dieser zerstörerischen Religionskriege.

    Die Zeichnung bezieht sich auf das dritte und letzte Kapitel The Secrets of Karbala. Der Film dauert zwei Stunden und springt zwischen dem siebten und zwölften Jahrhundert hin und her. Er hebt an mit der Teilung der Muslime in Schiiten und Sunniten in der Schlacht von Kerbela 680 nach Christus und reicht bis zur Spaltung zwischen orthodoxen und katholischen Christen während des Vierten Kreuzzugs von 1202 bis 1204 – dies alles zu einem Soundtrack, der traditionelle ägyptische mit elektronischer Musik kombiniert. Für die einzelnen Charaktere habe ich Marionetten aus Murano-Glas verwendet, was dazu führt, dass diese historische Epoche ziemlich surreal und mythisch erscheint, eine Mischung aus religiöser Strenge und dramatischer Fantasie. In meinen Zeichnungen zeige ich Szenen aus dem Film: Städte verwandeln sich in Tiere, Menschen verwandeln sich in Monster – und alles zusammen zeigt den Niedergang von Zivilisation, Vertrauen und Menschlichkeit.«

    Wael Shawky, geboren 1971 in Alexandria, zählt zu den renommiertesten Gegenwartskünstlern in Ägypten. Er studierte in Alexandria und den USA und stellt regelmäßig in bedeutenden Häusern aus, zum Beispiel im Museum of Modern Art in New York und der Serpentine Gallery in London. In seiner Arbeit untersucht und beschreibt Shawky Zäsuren und Übergänge gesellschaftlicher, politischer und religiöser Entwicklungen in der Geschichte der arabischen Welt.

    SZ-Magazin: Was war Ihr erster Gedanke, als wir Sie einluden, bei unserer Edition 46 mitzumachen?
    Mohamed Bourouissa: Mein erster Gedanke war: Warum haben Sie mich als Repräsentant Algeriens ausgewählt? Ich bin in Algerien geboren, lebe und arbeite inzwischen aber vor allem in Frankreich.

    Wir haben die Künstler nach ihrer Herkunft und ihrer Nationalität ausgesucht. Nicht danach, wo sie inzwischen leben.

    Das dachte ich mir dann auch. Im Laufe unserer Gespräche habe ich immer besser verstanden, dass es in Ihrer Kunstausgabe um die Durchlässigkeit und den Austausch zwischen Ländern und kulturellen Räumen geht – und um die Dekonstruktion dieser Räume, die ja eng mit dem Postkolonialismus verbunden ist.

    Ihre Arbeit besteht aus Fotos von einer Baustelle und einem architektonischen Grundriss. Geht es um den Bau eines Hauses?
    Genau. Es geht um den Bau eines Hauses und um Utopien. Unsere Utopien zielen ja oft gar nicht mehr auf die Zukunft, sondern bestehen in einer Rückkehr zur Tradition. Viele Migranten aus Afrika, die seit Jahrzehnten in Frankreich oder sonst wo in Europa leben, träumen davon, im Alter in ihre Heimat zurückzukehren. Also bauen sie kleine Häuser in den Orten, an denen sie ihre Kindheit verbracht haben – nur um irgendwann festzustellen, dass es gar nicht so einfach ist mit der Rückkehr. Ihre Kinder sind in Frankreich aufgewachsen und wollen nicht nach Algerien. Und auch sie selbst haben sich verändert. Am Ende stehen viele dieser Häuschen leer, bewohnt werden sie nur in der Fantasie des Bauherrn.

    Wem gehört das Haus auf den Fotos?
    Ich kenne die Leute ganz gut. Sie leben in Paris und haben es bis heute nicht geschafft, nach Algerien zurückzukehren. Sie reisen eher hin und her. Das Haus steht tatsächlich die meiste Zeit leer.

    Mohamed Bourouissa wurde 1978 in Algerien geboren, heute lebt und arbeitet er in Paris. Im Zentrum seiner Fotografien und Videos stehen Menschen, die sich sozial, kulturell und wirtschaftlich an den Rändern der Gesellschaft bewegen. Bourouissas Arbeit Temps Mort (2009) etwa dokumentiert den SMS-Austausch zwischen ihm und einem Gefängnisinsassen, den Bourouissa per Handy aufforderte, Fotos und Videos aus seiner Umgebung zu schicken.

    »Das Mittelmeer ist mein Zuhause, auch wenn ich momentan in New York wohne und wohl immer ein Nomadenleben führen werde. Aber ich wurde auf Malta geboren, dieser winzigen und damals ziemlich isolierten Insel im Mittelmeer, und ich verbinde viele Kindheitserinnerungen mit der Küste und dem Wasser.

    Vor fast zehn Jahren begann ich, an einer Serie von Filmen zu arbeiten, die sich mit dem Thema Migration auseinandersetzen. Besonders interessiert hat mich die Rolle von Malta, das als Anlaufstelle und Zwischenstation auf halbem Weg von Afrika nach Europa in die Migrations- und Flüchtlingslogik hineingezogen wurde. Als ich die Einladung bekam, bei der Edition 46 mitzumachen, musste ich sofort an einen dieser Filme denken. Er trägt den Titel The Departure, und ich dachte, wenn ich diesen Film aufbereite und wiederbelebe, ließe sich vielleicht eine Verbindung herstellen zwischen der aktuellen Situation und einer Zeit, die fast zehn Jahre zurückliegt, aber relevant ist für die verworrene Lage, in der wir uns heute befinden. Ich hatte damals vier Afrikaner eingeladen, segeln zu lernen; Männer, die ein paar Jahre zuvor übers Mittelmeer nach Malta gekommen waren. Der Segeltrip war seit der Flucht ihr erster direkter Kontakt mit dem Meer, sie sind noch einmal zurück aufs Wasser. Ich habe Teile dieses Films transkribiert und in Dialogfassung gebracht. Dead Reckoning heißt die kleine Szene, die teils banal und komisch ist, weil die Männer mit dem Boot zurechtkommen müssen, aber auch traurig, weil sie daran erinnert werden, was sie durchgemacht haben.«   

    DEAD RECKONING

    HAKIM - TOGO / ERIK - CONGO / IBRAHIM - SUDAN / JOHN SIERRA LEONE / GERALD -MALTA

    Malta 2.12.2007 14.00

    5 men prepare to set out to sea on a thirty-foot 1930’s wooden sailing boat in the Marsamxett harbour in Malta.

    Gerald The first thing I’m going to do is explain the parts of the boat. Ok. Now, sailing has its own sort of language and the reason, the reason why...ahhh we use certain language, certain words...like I’m a lawyer..even in law you use special language...to be precise. Alright! Now, the parts of the boat are these. The front is called the bow. Erik The Bow. Gerald The back is the stern. We don’t use.. the front and the back. This side which is the right side is called Starboard..Erik Starboard! Gerald This side..the left is called Port...Bow, Stern, Starboard, Port. Now this obviously is the mast ok… This is the boom....This part over here. I’ll keep it that simple. I won’t tell you the other parts. Now, the ropes… In sailing we never call a rope a rope…all of them have a special name! Now the ropes with which we pull up the sail, which are these, are called halyards. All Halyards!!!! Gerald The ropes with which we control the sail are called Sheets... Alright? Now we have this sail.. the small sail in front and this sail.. This is called a Jib. Erik Jib! Gerald If it’s very very big and it comes to the back it’s called a Genoa because we change the sails. This is called the main sail. All Main sail. Gerald So now we’ve got the parts of the boat alright...While we’re going along.. it sounds complicated but as we go along you’ll pick it up alright...Okay so let’s get going.. John We go?

    Gerald Now let me explain something about sailing ok. We’ve talked about the parts of the boat...now sailing.. I’m going to explain why the wind pushes the boat....the forces! I’m not going to go into this for now. I’m going to keep it very very simple. If the wind is pointing from this direction you can’t say straight..I can look up there and it’s coming from behind. You cannot say straight. You say at an angle to the wind. The wind pushed it this way and that force against the boat pushes it forward. So when we are close to the wind....slow haul we call it, we can go at an angle of about 35% but in terms of positions of the sail, there are 3 basic positions right.. Close haul. When the angle is wide, that is called reaching. When the wind is behind us we call it downwind.... so when you are close haul it’s called upwind… You are either close haul, reaching or downwind.. Do you see where the arrow is pointing? The wind is coming from there. Ibrahim Are we going to put it up now? Gerald Start putting it up! Hakim Let it go…Gerald Hold this up. Ibrahim Is that it? Gerald Higher higher higher..Hakim Higher. Higher. Gerald Ok I am going to sit here. You go there. Noo….. Hold it like this Hakim.....Ok.. Come back. Now try and sit here so I am able to manoeuvre. Mind this thing doesn’t hit your head....be careful it will hurt you. Hakim It seems things are working well today! Some days it’s rainy some days it’s shiny. Gerald Good day today. It’s holding up. Hakim Imagine we had this type of boat and we carry a million people on it......

    They head into open waters

    Gerald John...Loosen…loosen….. About this much.. Like that you’re comfortable no? Erik Mine...it’s good mine? Gerald Yes. Just don’t let it slack. I think you have to tighten it a little. Erik What means slack? Gerald Slack means flapping....Hakim You don’t have to ask a lot of questions...Erik We have to ask questions. If you don’t know something you have to ask questions. Hakim You can’t know without prophecy. Erik Ha? Hakim You can’t know without prophecy. Erik In one day you cannot, but you learn something.. Hakim Yeah of course…..Erik You cannot go out of experience and…. John Sometimes you need to ask to know. Hakim Sometimes when you talk too much you confuse people. Gerald Can you see that boat down there. Keep your eye on it and take your direction. John Ok. Gerald So where do you all come from? Ibrahim Don’t you eat a little when you are sailing? Gerald Yeah we eat.. I don’t want to eat..Ibrahim But I would like to eat...Hakim I don’t think you have to go much further..Let’s go back now because....Erik We’re not far yet! Hakim What are you talking about? John You are afraid? All Heheheheh… hahahaha..Erik Look at the other boat.. We ‘re the last. Hakim If you wanna go further go on another ferry not this one..Gerald Now do you want us to sail in the harbour? Hakim Ja. Gerald He’s a bit scared so....Hakim It’s scary you know..Gerald What are you scared about? Hakim I’m scared about everything around here....All Hehehehe...Gerald You only live once you know..Hakim It’s true but sometimes I…Erik It’s true..I’m… I’m backing you…..Hakim Because I don’t know how to swim you know. Gerald Ok alright..look I’m going to turn the boat this way so one of you...when I tell you has to pull this .. I’m going to turn....Mind your heads.... When I tell you let it go.. Leave it loose.. we are going to reach. Loosen loosen…....You alright Hakim? All Hahahahahaha...Hakim Hahahahahaha..John How long have you been doing this type of job? Gerald Sailing? My father used to sail so when we were small we used to go sailing. John But you need experience no? Gerald When you’re small you go out alone and you learn. John But this is not something one person can just teach you? Gerald You come once, twice, three times and as long as they let you do things like I’m letting you, then you remember because if you just talk then no one remembers. John Yeah..Gerald You have to try…John But how do you feel about this type of thing.. do you enjoy it? Gerald We do it for enjoyment! John For enjoyment? Gerald It’s a hobby. John But some people do it as a sport no? Gerald Last week we were racing! Last Saturday...John European..? Gerald No here in Malta, in Gozo.. John And it was a kind of competition? Gerald A competition.. yes! We had a race on Saturday … I mean a race on Friday and on Saturday. Hakim Is that Bugibba? Ibrahim No this is what’s the name?... St Julians. Gerald That’s Sliema and then St Julians behind it..John But it means that it’s something that someone else can learn and understand? Gerald Of course .. It’s a hobby...John A hobby....Yeah.. something you can take as a… something you can benefit from! Gerald It’s for pleasure yes..John It’s nice yeah..Gerald The nice thing about sailing is..…John But some time when we are in the civilized world someone can ask themselves a question.. what am I doing here? What is going to come out from this and I hope you think something like that yeah? Gerald Let me tell you....we do it so often and we are so used to it that ermm.....Erik I think it’s like.....you know when we are are playing football....when we are small, playing football we have a kind of pleasure doing it. You can enjoy doing something....I think it’s what he’s trying to explain. Ibrahim You see the problem is something that you have been used to it you always want to do it...Erik You doing it the first time…. You feel like something you did the first time you want to do it again. You like it from inside. Gerald But the beauty of sailing is..1…you do it because you have to have the skill to know how to do it but the second thing is, it’s so..... quiet. You hear nothing! Erik Yeah...Nothing....Gerald Just the sea…It’s nice and quiet. John Yes it’s nice and quiet..Gerald When you go out like this you forget everything...all your troubles..everything....John As we are now, people inside the sea...can they use the same method maybe going in or out from the sea ..maybe use the same method like this? Gerald Sorry I don’t understand. Hakim Like.. when you are deep inside the sea..Erik Far away....Gerald Yes we go far away.. I mean not with this boat but with my other boat we came from France. John But you use the same method like this? Gerald Yes of course. Erik From France to here…? Ibrahim They used to race with it. Gerald Not with this. No with this we’ve been to....John With the big one....Gerald With the big one....With this we’ve been to Sicily....Erik shouting With this one?.....Wooow…… Turn it...Turn it.. Hahahahhaa...Gerald Very often..Erik laughing Turn it.. Turn it....Hahahaha Hahahaha....Gerald You want to go to Sicily and get me arrested? Erik Hahahaha Hahahaha....Hakim No.No...You not gonna get arrested...Erik No. We just joking…John 10 hours with this? But with the engine it’s not going to be 10 hours? Gerald Let me tell you…when we start sailing properly when you go out a bit, it’s faster with the sails than with the engine. We go faster right....Erik Yeah I think so because with the engine you are not going fast.. like gumgumgumgumgum.....gumgumggum...With the wind you going faster? Gerald With the wind, you do on this boat...the most you do is 7 knots with this boat....but with the big boat you can do even 14..hey.. sailing.. so it’s quite fast…In the old days everybody used to go with sails. There weren’t engines....Erik Sorry? Gerald In the old days everybody used to use a sail...Hakim Yeah of course....it’s true....in the days of Christos… Ja...during the ancient times there wasn’t machines so it was there they invented this technology you know! Even in the modern world now we still using it for racing and everything yeah! Hahaha.......How beautiful it is…….....! But we went very far…..Gerald We didn’t go very far.....All Hahaha....Gerald We just went out for 10 minutes or so! Hakim In fact.....you know, the experience I had on the sea when I was coming here to Malta…...Gerald You had a bad experience? Hakim Yeah yeah yeah....because the...the sea...the boat was like this on the sea.....you know it implanted that kind of fear in me....so any time I go.. my mind reflects back to that, I get scared....Gerald But now you’ll get over it! You come with us and you get over it. All Hahahahahaha...Gerald Psychologically you’ll get over it....John Haha….haha......

    Hakim Ahhh.....how beautiful the world is....Without the sea, what we gonna do? Haahahahahah..All Hahahahaha...Gerald And when we were out there you were afraid! Hakim You know what....without the sea, how I’m going to get here? Hahahahahaha…..errrrr ha. Even here I’m still afraid. Because even from here I can’t swim....I can’t....Gerald But once you’re in Malta learn how to swim. Hakim I have to go to swimming school. Erik I will start to learn how to swim in April. Hakim Like diving or something...Erik No you have to learn how to swim first, then you can dive...Hakim No..no I have to learn from an institution...to show me to do this…do that, because if I go and learn alone then..how I’m gonna do it..John You have to learn it from a swimming pool so you can get the experience....Gerald All the children learn alone! Erik It’s nice......It’s really nice. I have a friend of mine he has a boat as well.. a sailing boat. Gerald A sailing boat? Erik Yes. His name is Patrick. He’s Maltese! He goes to Gozo when there are those...how do you call it.. hmm…..public holidays. Gerald Yes..yes Erik He didn’t waste that time. When there is public holidays he just sails.....Gerald Well these are all.. everybody is going away for the weekend. They sleep on the boat....All Yeah..?? Erik Why don’t we sleep on the boat? Hakim You wanna sleep here or what? Hahahahahahah.....John When they get inside the sea they can handcuff the boat and they sleep....It’s better....sometimes you enjoy the wind.. It’s good somehow..But I know that Hakim is not happy here. Erik But it’s a little dangerous when the waves are higher? Gerald It’s dangerous when the people on the boat don’t know how to handle the boat, that is the truth.. the boat is strong......the weakest thing is always the people on the boat. Hakim Yeah it’s true....Gerald When the people on the boat know how to handle it, it’s not that dangerous. Hakim Very nice......Cause there was a time people on a boat people were confused, then they were shouting in confusion....Gerald Yeah but that’s what a panic can do....Erik But if you know what you’re doing you keep yourself calm…..Gerald Yes of course.. If you know how to handle it…Hakim The world is quiet on the sea….Gerald That’s what I was trying to tell you. Hakim You forget the world behind…..Gerald That’s what is so nice about sailing. So you’re going to become a sailor? Hakim Hahahahahha…hahahhaa..Gerald So now we can turn round and go out again....Hakim Yeah…...Maybe later! All Hahahahahha…hahahhaa...Hakim But human beings are so clever…! Gerald Of course they’re clever! Hakim How can they invent such a thing....to be able to walk on the surface station of the sea? Gerald Yeah! But they’ve been doing it for thousands of years...Hakim Ha..ha..ha..Gerald It’s not new! Erik You do it well. He’s doing it well...Gerald Yes he’s doing well. No..you hold it well. You’ve held it before? John I have experience. Erik Hahahahahaha..John I have experience ….haha Erik One hour experience! Gerald One hour...Hakim No..he drove before....You were the captain right? John I can drive…even from here to…Hakim Libya.. John Even Libya.....Libya I can drive. With the compass, for me I can drive.....Gerald Ok. Ibrahim But this is the compass? Gerald What we’ll do is when we go in there, I’ll get you to turn the boat round and we will go out….Erik Out again…? Gerald We’re not going to go far so you’re not afraid. Erik IBRAHIM….IBRO…..

    Hakim If anyone has cigarettes here it would be very enjoyable....Gerald No I don’t smoke....You smoke..you’ll kill yourself! Hakim Oh Yeah..? Gerald That is dangerous! Smoking is more dangerous than sailing....Hakim Hahahaha...Ilallluuu....Hahaahaha...John Because he’s......Gerald It gives you cancer…..Hakim Hahahhaha…Imagine you are in a place where you are shouting for help and nobody can hear you....What you going to do? Hahahahaha....All Hahahaha.. …Hakim Hahahaha…You got nothing to do......Erik Good…Now..now… we…. going to……Gerald To Sicily. Erik Guess who....Gerald Well Sicily is just there...Hakim It’s not far ha..? Gerald 56 miles. Erik Let’s go to Sicily. Ibrahim 56 miles…..from here to Sicily? Gerald To the nearest point....John You know sometimes when you standing in Rabat on a clear night you can see the lights....Gerald I’ve never seen them but they say they see them....John One night I could see them and a Maltese man was arguing with me saying it’s not true, but I could see them.

    John Please can I make some water…? Mr..can I make some water? Can I make some water in the sea..? Gerald Yes Yes..Erik There’s the toilet in there! Gerald Ah...Do it in the sea. Don’t fall! Erik The tourists will take your picture..They’ll see your dick....The tourists will take a picture of it…Hakim That’s how we urinated when we were coming here. Gerald Yes..? You got used to it ha! How long did it take you to come here? How many days on the sea? Erik 4. Gerald 4 days? Hakim We… it take us 3....Erik We were lost. Gerald All from Libya? Erik We were lost...We were lost…..Gerald But wasn’t there somebody who knew how to navigate? Erik screaming loud swinging his arms in the air...WEARELOST....! Gerald On the boat isn’t there somebody who navigates? Erik No…...They just lie.....All of them..They were liars…Hakim Even me…..I never touch a boat before but I brought a boat..Erik They will teach you how to navigate....Hakim To navigate and we use it....I was fucking scared whenever I saw the sea......Erik They teach you the basic and then you sort it out yourself.. They don’t come with you or anything....

    Gerald NO??? Erik NO.....! Hakim ....NO! Erik They just put you together. Gerald That’s very dangerous..So you don’t know where you are going? Hakim No.....with the compass you know where you are going. Gerald No. Let me tell you.....with the compass you know where… the direction you are going in..Erik No.......No.....I’m sure that we were somewhere that nobody came here before.. Hahhahahahahaha...All Hahhahahahahaha....Gerald No...but the thing is, all you do, is.....they give you a direction on the compass and you just go in that direction? Erik Ja. Ibrahim The direction will be on the compass..Gerald That’s all.....? Ibrahim That’s all and there is nothing else.....Erik They just say to keep north....that’s all....Ibrahim You don’t have anything…they will just give you the compass and the direction of the compass.. and some food with water..That’s all! So you have nothing else..Gerald But nowadays with a GPS...you buy a small one.. it’s like a calculator, you know exactly where you are all the time....Hakim But we tried to call the immigration..and say which direction are you? But you can’t tell them the direction..because you don’t know. You are lost....Gerald I know where I am all the time....It’s not just a question of saying. Ok, I told you Sicily..32%...but if you make a mistake then you’re… you don’t know where you are then! Erik And then I realised as well....there is the wind as well. It can push you back....Gerald It drifts...It’s called drift... Erik It makes you go slow...and many people are thinking that maybe you will do 1 or 2 days...or 3 days....but let’s say 2 days and then you will reach....you will see another land....for example, Malta or you will see for example, Italy....but then you realise that say after 2 days you see nothing….Hakim You become confused....Erik People begin to say “What’s he saying....this guy? He said 2 days or 1 day....No it’s not… We are already 2 days now.. what…...??? Where are we…....??? Hahahahaa....and then people panic Hahahaha…you see…That time…You cannot explain somebody…..something! NOBODY! Gerald What I find amazing is that there isn’t somebody who knows navigation. Erik There is not. There isnot. There is not! Gerald Very dangerous. John But he has to have it in his brain…. Ha? Gerald Yes....but I mean navigation is different..You have to know..The important thing is that you always know where you are. You can mark it on the map. That is the most important thing! Ibrahim The important thing is to know the direction and where you are. Gerald Where you are....It’s important to have the chart. No wonder you get into trouble with just a compass. A lot of people die ha...?? No wonder people die if you go like that.....All Ja…Yes yes...Erik A lot of people will die. Hakim We saw someone in the middle of the sea....Somebody.....like, as we are sailing this way we saw him and the wave...was turning him all around....and his legs were up....and his head was down.. like that………going….. and the boat became silent for about almost 2 hours. Everybody was thinking. If you are......imagine you are travelling, then all of a sudden you saw a dead body…… in the sea…. So you think about your own soul. Gerald Of course….Hakim That’s why I’m afraid of the sea so much....I don’t want to learn how to swim....because I…...hahahahhaha don’t know where it’s going to carry me..HAaahahahah.......I see it like a complete Death Machine.. you see I see it like…Gerald But you came with us.....Hakim Yeah.. yeah.. yeah... Erik The problem is that we were not united when we were coming....Hakim It’s true..Erik But when you feel the condition is good and united, for me, I think… It’s a.....how do you say it?....it’s a way to travel.....it’s a way to travel....Gerald But I would have thought that there would be at least one person who knew how to navigate. Erik At least one person. Hakim But now in Libya there is not.....because everybodywants to go to Europe you know so even if.....I don’t know how to navigate.....I will say I know how to navigate so that they will allow me..because the navigators don’t pay anything....any amount. You know….they go for free. John You know....the the..theeeee.. the…...what you people have to understand is that many people...some people they know how to drive...and the point is that not all people that drive, drive inside the sea.. they used to driving just inside some little stream you know....they don’t have the experience in the sea and some people have driven in the sea…then everybody want to say one thing… that’s “I know how to drive”. Then they give them the boat and get inside the sea....that is where the experience matters and they don’t know what to do. Gerald That’s when things go wrong…John Sometimes the compass stops, when you go on the waves.....in the sea...the compass stops so you have to use your experience. Where is north where is east where is south....and west....you have to read it.. you check in the map and see whether Europe is in the north or the West so you have to check forward but some people don’t know that. Gerald An easy way to calculate, is if you have the compass direction and you know how much speed you are going at...for instance now we are doing about 3 to 4 knots..ok then you can calculate where you are because you have the direction and you say in 1 hour I can do 3 miles or 4 miles. So you can mark it. That way of navigating is called dead reckoning. It’s the easiest, simplest way of navigating. DeadReckoning All Deadreckoning…...Gerald Usually....before we had GPS and things like that, we used to navigate, this way. We had a compass and then we had what is called a log. John What is that? Gerald A Log was an instrument which measures the speed at which you are going.. so you can say every hour….Erik We better move......He’s coming in our way….John Don’t worry he’ll give us a chance...Gerald He’ll give way. John Now he’s coming to your left so you should move to the centre..

    They enter the harbour….The Armed Forces patrol boats neatly docked in the distance. Erik and Ibrahim stand tall and proud at the bow of the boat.. A harbour cruise boat sails closely past them.

    “Valletta was built by the Grand Master Jean Parisot de La Valette following the great siege of 1565… Valletta covers an area of 915 metres by 640 metres and is surrounded by 2.5 kilometres of bastions……..”

    Erik Ibrahim......here...you take the rope....Ibrahim Ok Ok Ok...Erik Because you’re tall…Ibrahim Ok… Because you’re short. Hahahahahaha....Erik Hahahahahaha Hahahahahaha…I’m just behind just in case! Ibrahim Because of what? I know how to swim.....I’m not like Hakim..Hahah.. ahaha…Iknow how to swim.....If you like let me climb inside...you’ll see…...Erik Aha.....? Ibrahim Ahha........I can do it......I know how to swim. I’m not like you and Hakim. Erik I don’t know….…but, somehow………….I’m not afraid……........I am not afraid…………………………

    Mark Mangion, geboren 1976 auf Malta, studierte Malerei und Bildhauerei in London und New York. Er tritt auch regelmäßig als Kurator in Erscheinung, zum Beispiel gründete er die beiden interdisziplinären Diskursplattformen Malta Contemporary Art (2008) und Parallel Borders (2012), auf denen Künstler zu geopolitischen Themen arbeiten und ausstellen. Mangion lebt in New York und Valletta.

    Im Sommer wird der helle Sand am Lido vor Venedig jeden Morgen geharkt, mit schweren Maschinen. Danach sieht man kein Strandgut mehr am Ufer. Jetzt ist es Herbst, und es liegen dort, wie an allen Stränden der Welt und so auch an der Adria, Äste und ganze Baumstämme, PET-Flaschen, Gummischläuche und Plastiktüten, Dosen und Stoffreste – und Turnschuhe. Sie bestehen aus einem Material, das sie zum Strandgut besonders geeignet macht: Sie sind leicht, undurchdringlich und sehr robust.

    Immer schon hatten diese Schuhe etwas Rätselhaftes, ja Unheimliches. Vielleicht waren sie nur von jemandem benutzt worden, um von einem steinigen Ufer zum Baden ins Wasser zu kommen, und wurden dann fortgespült. Vielleicht hatte jemand barfuß einen Strandspaziergang machen wollen und die Schuhe an einer Stelle stehen lassen, wo eine Welle sie erreichen konnte. Vielleicht hatte sich ein Gast auf einem vorüberfahrenden Schiff oder Boot gesonnt und seine Kleidung auf dem schwankenden Deck liegen lassen. Denkbar war immer vieles, aber es gab stets auch eine andere Möglichkeit: Dass die Schuhe von Selbstmördern, über Bord Gefallenen oder Schiffbrüchigen stammten.

    Im Lauf der jüngsten Jahre haben sich die Spekulationen verändert, die sich an Turnschuhe als Strandgut knüpfen. Es erscheint zweifelhaft, dass sie von einem Badegast stammen. Viel dringlicher ist nun die Vermutung, dass sie einem Flüchtling gehörten, der auf einem seeuntauglichen Boot versuchte, irgendwo über das Mittelmeer zu gelangen. Ein paar Turnschuhe liegen am Lido, aber Berge von gebrauchten Schwimmwesten, Kleidern, Schuhen, Bootsresten sind an den Stränden griechischer und italienischer Inseln oder an den Ufern Siziliens aufgehäuft. Jeder Gedanke daran verbindet sich nunmehr mit zwei Vorstellungen, die Strände in Orte des Melodramatischen

    Die eine Vorstellung ist die Ferienlandschaft, ein Vorgriff auf das Paradies, in dem sich der Mensch seiner Kleidung entledigt, um sich der Sonne und dem Meer auszuliefern. Die andere ist ein Kriegsgebiet, in dem Menschen ihr Leben riskieren, um einer Bedrohung zu entgehen, die ihnen furchtbarer erscheint als das Risiko, auf dieser Reise zu sterben. Meeresräume, schreibt der französische Historiker Fernand Braudel in seinem 1949 erschienen Riesenwerk Das Mittelmeer, seien nach »Menschenmaß« zu messen – je nachdem also, über welche Techniken die Menschen auf ihren Seereisen verfügen könnten. Folgt man Braudel, lässt sich das Mittelmeer höchst unterschiedlich charakterisieren, und an Metaphern ist kein Mangel: Brücke, Straße, Grenze, Graben, Friedhof.


    Vier große Halbinseln erstrecken sich von der Nordküste des Mittelmeeres nach Süden: die Iberische Halbinsel, Italien, der Balkan mit Griechenland an der Spitze sowie die Türkei. Hinter der Türkei liegt noch ein Meer, das Schwarze, das man per Schiff nur über das Mittelmeer erreicht. Die vier Halbinseln teilen das kleine Meer geografisch in drei, historisch in zwei Teile, wobei die Grenze zwischen den beiden Teilen entlang der Westküste des Balkans verläuft. Ein ungeteiltes Meer war das »Mare Mediterraneum« in der Antike gewesen. Damals konnte Platon in seinem Dialog Phaidon den Philosophen Sokrates erklären lassen, die Anrainer säßen um das Wasser herum wie die Frösche um einen Teich. Diese Zeit endete mit der Antike: Nach dem Tod von Kaiser Theodosius I. im Jahr 395 nach Christus wurde das Römische Reich in Ostrom und Westrom geteilt. Seitdem gibt es das Mittelmeer als einheitlichen Raum nicht mehr, die beiden Teile kommen nicht wieder zusammen, bis auf den heutigen Tag. Von dieser Trennung berichten auch die Turnschuhe am Strand.

    Nach der Teilung des Römischen Reiches war es das Weströmische Reich, das erst allmählich und dann immer schneller versank, in den Wirren der Völkerwanderung. Auch gegenwärtig kann man den Eindruck haben, dass die eine Hälfte des Mittelmeers halbwegs stabil bleibt, während die andere Seite politisch, ökonomisch und kulturell zusammenbricht – nur dass es dieses Mal der äußerste Osten ist, der sich selbst zerlegt und zerlegt wird. Zur Destabilisierung trägt bei, dass die Grenzen zwischen dem westlichen und dem östlichen Meer wanderten – und dass sich über diese Teilung eine andere legt, nämlich die zwischen dem Norden und dem Süden. Als die Araber die Iberische Halbinsel beherrschten, als das Heer des Osmanischen Reiches vor Wien stand, war der Süden weit nach Norden vorgedrungen, und umgekehrt war Algerien noch nach dem Zweiten Weltkrieg sehr französisch. Aber da hatte das Mittelmeer längst einen großen Teil seiner Bedeutung eingebüßt. Neben dem Atlantischen, dem Indischen und dem Pazifischen Ozean war es ein Nebenschauplatz der Politik geworden – was nicht heißt, dass es dadurch weniger gefährlich geworden wäre.

    Das Arsenale, die ursprünglich mittelalterliche Schiffswerft, in der auf dem Höhepunkt der Macht der Republik Venedig – also vom 14. bis zum 17. Jahrhundert – mehrere Galeeren pro Tag fertiggestellt werden konnten, hat vom Land her nur einen Eingang. Vor dem Portal stehen vier steinerne Löwen, ein großer links und drei immer kleiner werdende Löwen rechts. Sie stammen aus dem antiken Griechenland, der große hat einst den Hafen von Piräus bewacht, der älteste stand möglicherweise auf Delos. Ein paar Wikinger, die sich vermutlich im 11. Jahrhundert in der Gegend aufhielten, die vielleicht im Dienst des oströmischen Kaisers standen, vielleicht auch Händler waren, verzierten ihn mit Runen. In Venedig und an diesem Ort stehen sie seit dem 17. Jahrhundert: Ein siegreicher venezianischer Flottenkommandeur hatte sie mitnehmen und aufstellen lassen. Jetzt stehen sie vor dem Arsenale auch als Zeichen dafür, dass die Geschichte nicht nur Europas, sondern auch des Vorderen Orients immer auch eine Geschichte des Mittelmeers war.

    Odysseus war die Figur, die den Osten und den Westen zusammenhielt, als er, unwissend und irrend, von Volk zu Volk und von Gewalttat zu Gewalttat reiste und, nachdem er endlich nach Hause zurückgekehrt war und auch dort ein Blutbad angerichtet hatte, wieder aufbrach, irgendwohin, bis zur Insel der Calypso vielleicht oder sogar darüber hinaus. Das Mittelmeer ist, an den Ozeanen gemessen, ein kleines, eng eingefasstes Gewässer, eben ein Meer in der Mitte. Umschlossen ist es von drei Kontinenten, die ineinander übergehen und nur durch schmale Wasserstraßen voneinander getrennt sind: durch den Suezkanal, den Bosporus und die Straße von Gibraltar. Aber auch die Wasserfläche innerhalb dieser engen Grenzen ist mannigfach geteilt: im Westen durch die Balearen, dann durch Korsika und Sardinien, durch Italien mit Sizilien (dem sich auf der afrikanischen Seite Tunesien entgegenstreckt), durch Griechenland und Kreta, durch Malta – nirgendwo erreicht das Mittelmeer ozeanische Anmutung, überall gibt es Meerengen und Sunde, überall ergeben sich Strecken, auf denen der Weg über das offene Meer kurz ist, was die oft falsche Hoffnung nährt, es wäre leicht, vom einen Ufer zum anderen zu kommen.

    So hochgradig zivilisiert ist das Mittelmeer, wenn man nur die Orte und den Grad seiner Besiedlung betrachtet, dass der Architekt Herman Sörgel Ende der Zwanzigerjahre vorschlug, das Gewässer zum Teil trockenzulegen und einen gewaltigen Staudamm in der Straße von Gibraltar zur Gewinnung von Energie und als feste Brücke zu nutzen. Auch Sörgels Vision war politisch: Afrika sollte die Rohstoffe liefern, damit Europa sich im Wettbewerb gegenüber den beiden großen Mächten Amerika und Asien behaupten könne. Dazu bedürfe es der Landgewinnung und stabiler Verkehrswege. Selbstverständlich wurde nichts aus dieser Idee, was nicht nur daran lag, dass es unmöglich gewesen wäre, die für den Bau notwendigen Mengen an Beton herzustellen. Vor allem brauchte man, als die Epoche des Kolonialismus zu Ende gegangen war, Afrika und die Afrikaner nicht mehr, jedenfalls nicht in der Form, dass man sich des Kontinents als eines Besitzes hätte bemächtigen müssen. Was die Industriestaaten an Rohstoffen heute wie damals benötigen, bekommen sie auch so, meist ohne sich unmittelbar engagieren zu müssen. Dafür sorgt ein Markt, auch wenn er mit großen Teilen der afrikanischen Bevölkerung wenig oder gar nichts anfangen kann – und diese blieb, bis zu den jüngsten Ereignissen, in Afrika zurück.

    Auf dem offenen Meer vor dem Lido liegen ein paar Frachter, kleine und mittelgroße. Sie liegen dort unbeladen, auf Reede, und warten darauf, dass ihnen jemand den Auftrag gibt, ein paar hundert Container (denn darum handelt es sich meistens) zu transportieren. Vor Beirut liegen ähnliche Schiffe, vor Barcelona auch, und vor Istanbul sind es manchmal Hunderte. An ihrer Zahl lässt sich, unter gewissen Bedingungen, aber zuverlässiger womöglich als an jeder öffentlichen Statistik, die jeweilige Lage der Konjunktur ablesen: Sind es wenige, stehen die Zeichen auf Wachstum, sind es viele, nimmt auch die Arbeitslosigkeit zu. Daneben offenbaren diese Schiffe, wie es in der ökonomischen Konkurrenz unter den Anrainerstaaten des Mittelmeers steht – und in der Konkurrenz der Häfen. Dass vor Neapel, im Unterschied noch zu den Siebziger- oder Achtzigerjahren, nur wenige Schiffe liegen, heißt indessen nicht, dass dort übermäßig viel produziert würde. Es bedeutet vielmehr, dass Neapel, wie ganz Süditalien, den Wettbewerb um die großen Häfen am Mittelmeer bis auf Weiteres verloren hat. Die großen Schiffe und viele der mittleren legen jetzt in Tanger an oder in Piräus, einem Hafen, der zum Verkauf steht und derzeit von einem chinesischen Konzern gepachtet wird.

    Unlängst schlug ein Wirtschaftsprofessor aus Neapel der italienischen Regierung vor, ein gigantisches Konjunkturprogramm aufzulegen. Italien, erklärte er, liege im Mittelmeer wie ein riesenhafter Landungssteg: Warum sollen Rotterdam oder Hamburg die großen Häfen Europas sein, wenn man doch den größeren Teil des europäischen Kontinents, vor allem im Osten, von Italien aus auf kürzeren Wegen erreichen könne (so wie das bis zum Ersten Weltkrieg von Triest aus geschah)? Abwegig ist der Gedanke nicht. Noch immer wird der größte Teil des Welthandels über das Mittelmeer abgewickelt, und nach der Eröffnung des erweiterten Suezkanals ist das erst recht der Fall. Und natürlich ist der italienische Staat nicht gerade reich, doch es fließt ja nach wie vor, nicht zuletzt aus Mitteln der Europäischen Union, sehr viel Geld in seinen Süden.

    Und ist der Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht eben dies gelungen: unter neuen Voraussetzungen eine historische Bedeutung zurückzugewinnen? Der politische und wirtschaftliche Aufstieg der Türkei geht auch darauf zurück, dass sie die letzte Bastion der Nato vor den Kriegslandschaften des Nahen Ostens ist. Aber er hat ebenso viel damit zu tun, dass die Türkei nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder zum Knotenpunkt auf den alten Handelswegen wurde, die jetzt aus den neuen Staaten im Süden des ehemaligen Sowjetreiches wieder in das Mittelmeer führen.

    Am Ufer des Lido, gleich oberhalb des Sandstrandes, liegen zwei Hotels, die beide kurz nach 1900 errichtet wurden. Das eine, das »Grand Hotel Excelsior«, ist – auch dies eine Reminiszenz an die Geschichte des Mittelmeers und Venedigs – in byzantinischer Bauart errichtet. Das andere, das »Grand Hotel des Bains«, im Jugendstil. Es ist berühmt, weil Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig hier spielt, wie auch deren Verfilmung durch Luchino Visconti. Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien, pflegte hier abzusteigen, und auch König Faruk von Ägypten, der selbst ein Anrainer des Mittelmeers war.

    Das »Hotel des Bains« steht leer. Eine Zeit lang hieß es, es soll vielleicht umgebaut werden und künftig Eigentumswohnungen enthalten, zugleich Teil einer großen Ferienanlage werden, die den ganzen Norden des Lido umfassen werde. Wo man die Käufer der Appartements rekrutieren will? An die arabischen Länder haben die Investoren gedacht, und an Oligarchen, die zur Biennale oder zu den Filmfestspielen mit ihren Yachten kommen, die ansonsten vor der Côte d’Azur liegen, Marbella an der Costa del Sol anlaufen oder durch die Ägäis kreuzen. Indessen: Eine Yacht ist, im Vergleich zum Hotel, ein souveränes Gemeinwesen, und die Grand Hotels braucht keiner mehr. Und obwohl gerade zu lesen war, dass das ehrwürdige Haus nun doch wieder zum Hotel werden soll, wird man den Verdacht nicht los, dass das »Grand Hotel des Bains«, den dort hängenden Bauschildern zum Trotz, längst eine Investitionsruine ist.


    So etwas wie das alte Mittelmeer hätte hier noch einmal entstehen sollen, genauer: das Mittelmeer, wie es um die Mitte des 19. Jahrhunderts als befristete Vorstellung eines Paradieses auf Erden entstand und nach dem Zweiten Weltkrieg demokratisiert wurde – als ebenso sonnenbeschienene wie dramatische Landschaft, in der sich der Mensch der Muße und den Sinnen hingibt, unter einer Pergola oder an einem Strand, während ein ganzes Volk freundlicher, naturverbundener Köche, Kellner und Musiker dafür sorgt, dass es in den kostbarsten Wochen des Jahres an nichts fehlt. Noch leben ein paar alte Fischer und Bauern, die davon erzählen können, wie sich, für sie zunächst ganz unbegreiflich, die hundert oder zweihundert Meter oberhalb der Wasserlinie in kostbare Immobilien verwandelten, um in jedem Sommer von unzähligen Menschen bevölkert zu werden, die dort nichts anderes tun wollten, als zwei Unendlichkeiten zu begegnen, dem Himmel und dem Meer. Strandurlaub ist ein kaum begreifliches Vergnügen, zu dessen Erklärung man theologisch werden müsste: »Rien faire comme une bête (›nichts tun wie ein Tier‹), auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen«, wie Theodor W. Adorno schrieb – diese Vorstellung von Glück ist auf der einen Seite an die freiwillige Rückkehr zum primitiven Leben gebunden, Feuer am Strand und Rituale des Rausches inklusive, auf der anderen Seite an jene Betonierung der Küsten, nach der die vermeintlich schönsten Landschaften der Erde den urbanen Landschaften der industrialisierten Länder, denen man zu entkommen suchte, auf fatale Weise ähneln.

    Über Jahrzehnte hinweg war das Mittelmeer für die Menschen des Nordens – und zum Norden in diesem Sinne gehört merkwürdigerweise nicht nur das Europa nördlich der Alpen, sondern auch das Italien der Städte – eine Vision irdischer Erlösung. Vielfach ist es immer noch so, obwohl ein großer Teil dieser Vision, aufgrund jener Urbanisierung, aber auch aufgrund der Flugpreise, in andere Weltgegenden umgezogen ist, in die Karibik etwa oder nach Thailand.


    Der Urlauber und der Flüchtling sind auf unheimliche Weise komplementäre Gestalten. Das beginnt damit, dass sie einander immer wieder begegnen, am Strand zum Beispiel, der eine so nackt oder halbnackt wie der andere. Und es setzt sich darin fort, dass sie einander begleiten: Es ist der Flüchtling, der, nicht selten illegal, die Teller spült, von denen der Urlauber in seinem Ferienrestaurant isst, der seine Koffer trägt, der ihm Kopien von Markentaschen verkauft und der ihm zuletzt womöglich die Börse stiehlt. Außerdem bewegen sich der Urlauber und der Flüchtling auf den gleichen Reiserouten, indessen oft in gegenläufiger Richtung und zuweilen zeitlich versetzt. Am Brenner zumindest begegneten die beiden sich immer, und auf den Brücken von Venedig, wenn der Flüchtling dem Touristen als fliegender Händler entgegentritt. Und es endet damit, wie man mit leichtem Schrecken feststellen muss, dass der Urlauber, wenn er in den Süden reist, keineswegs nur die Bequemlichkeit sucht, sondern auch den Schock: Er will sich einer fremden, existenziell anderen Situation aussetzen. Er betreibt eine Entwurzelung, auf Zeit, gewiss und allseitig versichert, aber doch eine Entwurzelung. Es ist, als wollte er wenigstens von fern Bekanntschaft schließen mit einer Erfahrung, die den Flüchtling auf eine ganz andere, elementar bedrohliche Weise, mit absolut ungewissen Aussichten und ohne Rückhalt ergreift.

    Im Sommer wird der helle Sand am Lido vor Venedig jeden Morgen geharkt, mit schweren Maschinen. Danach sieht man kein Strandgut mehr am Ufer. Jetzt ist es Herbst, der Wind bläst von Süden, von Afrika, wie so oft, wenn das Wasser über die Ufer tritt und den Markusplatz überschwemmt.

    Thomas Steinfeld, geboren 1954 in Leverkusen, ist leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er studierte Germanistik und Musikwissenschaft in Marburg und Berlin und war Werbetexter und Übersetzer in Schweden, bevor er 1984 als Lektor für Germanistik an die University of Calgary ging. Zwei Jahre später wechselte er als Gastprofessor an die Université de Montréal, wo er bis 1990 blieb. Zurück in Deutschland, arbeitete er zunächst als Verlagslektor und Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart, bevor er Anfang 1994 als Literaturredakteur zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung wechselte. Im Sommer 2001 wechselte er als Leitender Redakteur ins Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Von Anfang 2007 bis Ende 2013 war er Feuilletonchef, seitdem ist er Kulturkorrespondent für Südeuropa. Daneben ist er Titularprofessor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern in der Schweiz. Er lebt in Venedig und in einem Dorf an der südschwedischen Ostseeküste.

    Chefredaktion: MICHAEL EBERT, TIMM KLOTZEK
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    Künstler-Porträts: PER KRISTIANSEN, PINI SALUK, FRANCESC RUIZ, BENOIT PEVERELLI, MAIRA VILLELA, NIDHAL CHAMEKH, JAVIER FOLKENBORN, TANJA DEMAN, STELLA MOUZI, JIM RAKETE, DAVID BACHAR, JENS SCHWARZ, KHALED AL-HARIRI/REUTERS/ULLSTEIN BILD, ANNIKA FÜRGUT/KUNSTSAMMLUNG NRW, MARK MANGION, FABRICE SEIXAS, ALESSANDRA SCHELLNEGGER

    Das Mittelmeer
    1. Section 18
    2. „Von den Schiffen hypnotisiert«
    3. »Es gibt keine Helden mehr«
    4. »Vielleicht brauchen wir eine Sauerei«
    5. »Geflickt, aber nicht zerrissen«
    6. »Sechster Kontinent«
    7. »Wir leben in bebenden Zeiten«
    8. »Ich fühle mich zu den Schatten hingezogen«
    9. »Farbe wäre zu verführerisch«
    10. »Arbeit als Gebet«
    11. »Das Phänomen ist nicht neu«
    12. »Diktator Hitze«
    13. »Vier kleine Märchen«
    14. »Die Vögel sind geköpft«
    15. »Menschen verwandeln sich in Monster«
    16. »Leere Utopie«
    17. »Zurück aufs Wasser«
    18. »Ein riesiger Teich«
    19. Section 19