Die Zeitung
Als 1945 die erste SZ erschien, war sie Symbol für die neue Zeit. 70 Jahre später öffnet sie noch immer Welten.
Die Zeitung – was für ein wunderbares Wesen. Ein Wesen? Nein, sie lebt nicht, jedenfalls nicht im biologischen Sinne. Aber sie ist auch mehr als nur ein Ding, weil sie ein immer neues Destillat von Gedanken, Sprache und Bildern ist. Sie materialisiert sich auf Papier, und in dieser Existenzart wird sie fast jeden Tag neu geboren. In ihrer anderen Erscheinungsform, als Datenstrom in der digitalen Welt, ändert sie sich ständig, nicht nur weil sich der große digitale Fluss ohnehin in jeder Nanosekunde verändert, sondern auch weil Menschen unablässig Texte, Bilder, Grafiken in der digitalen Zeitungsausgabe erneuern oder austauschen. „Die Zeitung“ ist heute längst nicht mehr nur jener Packen bedrucktes Papier, den man im Briefkasten hat oder im Laden kauft. „Die Zeitung“ ist auch die Webseite und sie ist die digitale Ausgabe, die Zeitungsleser auf einem Tablet, auf dem PC oder auf dem Telefon lesen.
Ich gehöre, ein erster persönlicher Einschub, der Generation an, für die Zeitung „eigentlich“ ein gedrucktes, eher unhandliches Tages-Buch ist. Sicher, ich habe auch immer Zeitung gelesen, um mich zu „informieren“, um zu erfahren, was ich bis dahin nicht wusste, was los war zwischen Giesing, Berlin und Buenos Aires. Die Süddeutsche aber würde ich, läse ich sie nicht aus beruflichen Gründen seit langer Zeit, lesen, weil ich gern lese. Lesen lässt, so wie Musikhören, Bilder im Kopf entstehen, Gedanken, Ärger, Wohlgefühl, Zustimmung, Ablehnung. Nichts öffnet Welten so weit wie das Lesen, egal ob auf einer bedruckten Seite oder auf einem Bildschirm. Die Zeitung gehört zu den Weltenöffnern.
Als die Süddeutsche Zeitung vor 70 Jahren im bombenzerstörten München das erste Mal auf zwei Bogen Papier erschien, war sie auch ein Symbol dafür, dass eine neue Zeit begonnen hatte. Im Dritten Reich waren Presse und Rundfunk Herrschaftsmittel des Nazi-Staats; vor 1933 wurden die oft parteiischen, aber dennoch relativ freien Zeitungen gerade von den Nazis als „Systempresse“ oder auch mal als „Lügenpresse“ attackiert. (Menschen, die von ihrer eigenen Wahrheit sehr überzeugt sind, haben oft Probleme mit „den“ Medien, weil sie dort Dinge sehen, die sie für falsch, gesteuert oder, wie das neuerdings so schön heißt, für mainstreamig halten.)
Amerikanern und Briten war es 1945 sehr wichtig, dass ein neuer, demokratisch orientierter Mainstream in den Medien zu fließen begann. In den westlichen Besatzungszonen sollten so bald wie möglich neue Zeitungen und Zeitschriften sowie der öffentlich-rechtlich organisierte Rundfunk die Voraussetzungen für eine halbwegs informierte Gesellschaft sowie die Entwicklung der Demokratie schaffen. Die Süddeutsche Zeitung bekam die Lizenz Nummer eins in Bayern, am 6. Oktober 1945 war sie erstmals in München zu kaufen. Weil sie zu den sehr frühen Lizenzblättern zählte, ist die SZ älter als der nach 1945 neu erstandene Freistaat Bayern. Und sie ist älter als die Bundesrepublik.
Wie in vielen Amtsstuben, Gerichtsgebäuden und Büros in der Nachkriegszeit gab es auch in der SZ-Redaktion Leute, die in der Nazizeit widerständig gewesen waren, solche, die mitgelaufen waren und ein paar, die mitgemacht hatten, auch und gerade als NS-Schreiberlinge. Letztere wollten schnell vergessen, so wie in den Fünfzigerjahren die westdeutsche Gesellschaft insgesamt vergessen wollte. Das änderte sich, nicht zuletzt weil in einer Redaktion gesellschaftliche Prozesse heftig ablaufen können. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit prägte die westdeutsche Gesellschaft, aber auch die Süddeutsche Zeitung.
Viele ihrer damals jüngeren Kommentatoren und Reporter unterstützten die Politik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt; im Gegensatz zur FAZ und allemal zur damals noch ernsthaft politischen Welt aus dem Hause Springer stand die SZ eher links von der Mitte. Die Mitte lag in den Siebziger- und Achtzigerjahren allerdings etwas rechts von jenem politgeografischen Ort, um den die Mitte heute stark ausfransend wabert.
Ein zweiter, persönlicher Einschub. Ich habe als SZ-Redakteur seit dem 40. Jahrestag alle „Geburtstage“ dieser Zeitung erlebt. Die SZ hat sich in diesen Jahren natürlich verändert. 1985 und auch noch 1995 war ihre Auflage niedriger als heute, die Redaktion war kleiner, die Korrespondenten waren weniger. Zwar machten wir Zeitung unter wirtschaftlich grundsätzlich besseren Bedingungen als heute, weil das Geschäftsmodell „viele Anzeigen und genug Käufer“ prächtig funktionierte. Das hat sich verändert, besonders stark in den vergangenen zehn Jahren.
Manches ist in dieser Zeit anders geworden, auch die Besitzverhältnisse: Von den Alt-Verlegern, darunter die Nachkommen der Lizenzträger, ist lediglich die Familie Friedmann noch am Süddeutschen Verlag beteiligt; die anderen haben mehr volens als nolens 2007 zu einem für sie enorm günstigen Zeitpunkt ihre Anteile an die Südwestdeutsche Medienholding (SWMH) verkauft. Wir gehören jetzt zu einem „Konzern“, einer Dachkonstruktion etlicher Zeitungsverlage, was manchmal gut und gelegentlich sogar besser als früher ist. Allerdings bleibt die SZ auch unter dem SWMH-Dach das, was sie in 70 Jahren geworden ist. Schließlich erscheinen wir in München, der Stadt mit Selbstbewusstsein und Anflügen von eher freundlichem Größenwahn. So etwas prägt.
Jedenfalls ist es nicht leichter geworden für die Tageszeitungen. Und dennoch gibt es, so unbescheiden darf man am Geburtstag sein, keine andere Tageszeitung in Deutschland wie die SZ. Wir haben immer noch die besten Reportagen, ein großartiges Investigativ-Team, eine zu Recht vielgenutzte Webseite, einen modernen Lokal- und Regionalteil, die meisten Journalistenpreise, eine wachsende Digitalauflage, ein großes Korrespondentennetz . . . Genug des Selbstlobs. Trotzdem: Wir haben eine gute Zukunft – dank unserer Leser. Darauf bin ich als Veteran so vieler SZ-Jahrestage, dies ist der dritte persönliche Einschub, nahezu stolz.
In der Geschichte der Kommunikation gibt es drei umstürzende Veränderungen: den Buchdruck mit beweglichen Lettern, die Versendung von Tönen und Bildern über den Äther, also Radio und Fernsehen, und die Entwicklung des Internets. Der Buchdruck bedeutete den Beginn der Massenkommunikation, mit der Banales verbreitet wurde, aber auch Systemstürzendes wie die Ideen Luthers, Jeffersons oder Marx’. Die Druckmaschine war ein Instrument der Modernisierung, der Zeitungsdruck eines ihrer Kinder. Radio und später das Fernsehen machten alle, die ein Gerät hatten, zu Empfängern. Während die Zeitungen Medien mit verschiedenen Publika waren – die Einwohner einer Stadt kauften eine bestimmte Zeitung, die Sympathisanten einer Partei eine andere – waren die elektronischen Medien echte Massenmedien. Ihr Publikum war letztlich nur durch die technische Sendeleistung und den Zugang zum Gerät begrenzt – jeder Radiobesitzer ist ein Radiohörer.
Das Internet hat in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren noch einmal alles verändert. Zwar ist jeder ein Empfänger geblieben, aber gleichzeitig ist jeder Nutzer des Netzes selbst zum Sender geworden. Dies bedeutet nicht nur, dass jedermann seine eigenen Fotos, Texte, Collagen, Kommentare ins Netz stellen, also veröffentlichen kann, ohne dafür einen Vermittler, ein Medium zu benötigen. Es heißt auch, dass viele Netznutzer ihr Medienprogramm, ihre „Inhalte“ selbst zusammenstellen – nahezu unabhängig davon, was einzelne organisierte „Sender“, klassische Medien, Firmen, Parteien, Kirchen etc. anbieten.
Die Bedeutung dieser organisierten Sender, zum Beispiel auch der Süddeutschen Zeitung, ist gesunken. Es gibt immer mehr Menschen, die sich im Netz selbst zusammensuchen, was sie interessiert. Dabei legen viele nicht mehr so großen Wert darauf, woher ihre „Inhalte“ kommen und ob sie, ein Modewort, nach professionellen Gesichtspunkten „kuratiert“ worden sind. Viele Leute kaufen nicht mehr die ganze Zeitung, wenn sie über einzelne Dinge Bescheid wissen wollen. Dieses selektive Mediennutzungsverhalten ist der eine Grund für die sinkenden Auflagen der Zeitungen.
Der andere Hauptgrund liegt darin, dass sich auch das Leseverhalten ändert. Zwar gibt es in Deutschland viele Menschen, denen ein Bildschirm weder das gedruckte Buch noch die Zeitung auf Papier ersetzt – übrigens deutlich mehr als in den USA, weswegen ein Übertragen der dortigen Erfahrungen problematisch ist. Manche mögen gar nicht auf dem Schirm lesen (vor allem Ältere); die meisten aber sind Hybridleser, sie nutzen digitale Medien ebenso wie Gedrucktes. In Zukunft aber wird die Zahl der Screen-only-Leser größer werden.
Dies bedeutet nicht, dass die gedruckte Zeitung ein Auslaufmodell ist. Aber sie hat ihre Monopolstellung verloren. Wenn mein Nachfolger respektive meine Nachfolgerin in zehn Jahren zum 80. Geburtstag der SZ schreiben wird, wird sich der Anteil der digitalen Auflage zur Druckauflage deutlich verschoben haben. Und dennoch wird auch dann wieder eine Beilage in der gedruckten Zeitung erscheinen.
Der Wandel des Lesers zum Empfänger und Sender bedeutet auch, dass sich die Zahl der Leserreaktionen, vorsichtig geschätzt, verzehnfacht hat. Es gibt mehr Kritik, aber auch mehr Zustimmung; es werden mehr Fragen gestellt und generell hat die Möglichkeit, E-Mails zu versenden, die Bereitschaft zu schneller Meinungsäußerung enorm gefördert. Das bemerken Redaktionen genauso wie Firmen, Parteien oder Privatleute. Diese Sofort-Kommunikation hat das, was man einst „das Gespräch der Gesellschaft“ nannte, drastisch verändert.
Mir ist es, der vierte persönliche Einschub, völlig rätselhaft, warum einer in einem Restaurant das Telefon zückt, sein Essen fotografiert und dieses Foto nebst Kommentar dann zur allgemeinen Besichtigung ins Netz stellt. Andererseits haben unsere Eltern auch nicht verstanden, warum wir langhaarig zur Musik von The Doors die Welt verändern wollten. Jedenfalls ist die direkte Kommunikation zwischen Menschen, die eine Zeitung machen und solchen, die sie lesen, in welcher Form auch immer, ein wichtiger Teil des Zeitungslebens geworden. Auch das war vor zehn Jahren anders und es wird in zehn Jahren noch bedeutender sein.
Die größere Teilnahme und Teilhabe aller an der öffentlichen Debatte ist gut. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Privatheit, und damit ein Teil der Menschenwürde, immer mehr erodiert. Sie ist dadurch gefährdet, dass Geheimdienste aller Art Daten wesentlich effizienter als früher abgreifen können, unter anderem auch, weil heute nahezu alle Kommunikation sowie viele Transaktionen über das Netz abgewickelt werden. Sie ist aber auch dadurch gefährdet, dass fast jeder Mausklick von Interessierten aufgezeichnet und ausgewertet wird. Google, Facebook oder Amazon wissen über die Interessen, Obsessionen und Lüste sehr vieler Menschen sehr viel mehr als selbst investigative Reporter manchmal über Einzelne herausfinden können.
Vor dem Netz waren Zeitungen, Fernsehen und Radio neben allem anderen auch Entprivatisierungsmaschinen. Das traf zwar am schärfsten auf solche Blätter zu, in denen die gelegentliche Denunziation zum Geschäftsmodell gehörte – man denke nur an das immer noch lesenswerte Buch von Heinrich Böll „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. In Zeitungsarchiven fanden sich viele Dinge, auch wenn man die mühevoll suchen musste. Das ist heute anders. Jede Form von Information, Unterhaltung und Denunziation ist für jeden nur ein paar Fingerbewegungen auf dem Smartphone entfernt.
Die Welt, und damit auch die Welt des Zeitungmachens und -lesens, hat sich sehr verändert in den vergangenen 30 Jahren. Sie hat enorm an Geschwindigkeit und Reizflutung, ja Überflutung zugenommen. Sie hat die relative Stabilität, die mancherorts einer Friedhofsruhe nahekam, verloren. Sie ist unübersichtlicher, komplizierter, lauter, zugänglicher und auch chaotischer geworden. Eigentlich ist das ideal für Menschen, die von gutem Journalismus immer noch Weltenöffnung und -erklärung erwarten. Wir werden auch in den nächsten Jahrzehnten mit der Süddeutschen Zeitung Welten öffnen.