Der tägliche Kampf
Frauen in deutschen Flüchtlingsunterkünften
Eine Reportage von Felicitas Kock und Anna Fischhaber
Yasmin* hat jetzt ein neues Zuhause. Einen anonymen Wohnblock irgendwo in Nürnberg. Auf dem Gang riecht es nach Essen und Schimmel, bis zu 40 Menschen leben hier auf einer Etage, oft zu dritt in einem Zimmer. Wenn die Frauen duschen wollen, müssen sie an den Pissoirs der Männer vorbei. Im vierten Stock, Zimmer 410, sitzt Yasmin an ihrem wackligen Schreibtisch. Dahinter ein Metallbett mit pinkem Überwurf, nur ein paar Handbreit trennen es vom Nachbarbett. Zieh dich nicht zu schick an, hat ihre neue Mitbewohnerin zur Begrüßung gesagt. Schmink dich nicht. Bleib lieber im Zimmer.
Yasmin, eine Christin aus Iran, hört nicht auf die Worte der anderen. Die 27-Jährige trägt das lange schwarze Haar offen. Ihr T-Shirt ist eng, die Fingernägel sind lang. Yasmin hat in ihrer Heimat als Krankenschwester gearbeitet - bis ihr Vater sie mit einem Geheimdienstler verheiratete und sie das Haus nicht mehr verlassen durfte. Ihr Mann habe sie mit einer Waffe bedroht, erzählt Yasmin, deshalb sei sie geflohen. Nach Deutschland, weil Frauen hier frei leben können und weil es eine Kanzlerin gibt. Aber in Deutschland sei es nicht besser geworden. Viermal ist sie bereits umgezogen, von Flüchtlingsheim zu Flüchtlingsheim, jetzt ist sie verbittert. „Ich bin hier keine Frau, ich bin nur ein Flüchtling. Sogar ein Hund hat mehr Rechte in Deutschland.”
Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland, die Behörden rechnen in diesem Jahr mit bis zu 800 000 neuen Asylsuchenden – und die Gemüter erhitzen sich an der Frage, wo die ganzen Menschen eigentlich untergebracht werden sollen. In Turnhallen und Zelten? In leer stehenden Bürogebäuden und Containern, als Lösung für den Übergang, der oft Monate, manchmal Jahre dauert? Viele Kommunen sind so beschäftigt damit, den Flüchtlingen überhaupt ein Dach über dem Kopf zu bieten, dass die Zustände, die in den Unterkünften herrschen, kaum thematisiert werden. Dabei ist das Leben dort für manche Menschen schwer zu ertragen, insbesondere für manche Frauen
Fragt man Hilfsorganisationen, hört man immer das Gleiche: Frauen fühlen sich in den Einrichtungen unwohl, werden bedrängt, die Rede ist von psychischem Druck, von Übergriffen, von Gewalt, in besonders krassen Fällen auch von Vergewaltigung und Zwangsprostitution.
Eine nicht repräsentative Studie des Familienministeriums lieferte bereits 2004 erste Hinweise. 79 Prozent der stichprobenartig befragten weiblichen Flüchtlinge gaben an, in Deutschland psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein, 51 Prozent sprachen von körperlicher, 25 Prozent von sexueller Gewalt.
Gerade hat das Deutsche Institut für Menschenrechte eine weitere Studie zum Thema veröffentlicht – und prangert darin den mangelhaften Schutz von Frauen an, die nach Deutschland geflohen sind. Harte Zahlen kann Autorin Heike Rabe nicht liefern – der Kontakt zu den Betroffenen ist schwierig. Doch ihre Interviews mit Heimleitern, Anwältinnen und Frauenorganisationen stützen die Ergebnisse von 2004: „Gewalt und Übergriffe auf Frauen kommen in deutschen Flüchtlingsheimen immer wieder vor“, sagt die Juristin.
Begonnen hätten die Probleme schon in der Erstaufnahmeeinrichtung, erzählt Yasmin. Sie hatte sich mit ihren Mitbewohnerinnen gestritten. „Eines Nachmittags kamen ein paar Männer in mein Zimmer. Sie drohten mir und schubsten mich, schrieben Schlampe an die Wand über meinem Bett.“ Yasmin rief die Polizei, doch die konnte nicht helfen. Immerhin, ein paar Tage später durfte sie ausziehen.
Ihr nächstes Zuhause: Eine Wohneinheit in einer Unterkunft auf dem Land, die sie mit einem fremden jungen Mann teilte. In der gemeinsamen Dusche klebte Blut an den Wänden, immer wieder stand die Polizei in der Wohnung. “Er hat mehrmals versucht, sich umzubringen”, sagt Yasmin. “Nachts hatte ich Angst, dass er in mein Zimmer kommt und auch mir etwas antut.”
Drastische Worte findet Monika Cissek-Evans: „Gemeinschaftsunterkünfte sind kein Ort für Frauen, vor allem nicht für solche, die alleinreisend, alleinerziehend und traumatisiert sind“, sagt die Leiterin der Beratungsstelle Jadwiga, die sich um Opfer von Menschenhändlern kümmert und in der Bayernkaserne, Münchens größter Erstaufnahmeeinrichtung, ein Frauencafé betreibt. Schon mehrfach sei es vorgekommen, dass weibliche Flüchtlinge in Asylunterkünften von Zuhältern angesprochen wurden und in der Zwangsprostitution verschwanden.
Eine Frau aus Afrika, die aus Italien vor ihrem Menschenhändler geflohen war, habe diesen in der Erstaufnahmeeinrichtung wiedererkannt – der Mann hatte ebenfalls in Deutschland Asyl beantragt. Einen besonders krassen Fall machte die Sendung „Aktenzeichen XY“ 2010 publik: Eine Frau aus China wurde vor ihrem Zuhause, einer Flüchtlingsunterkunft in Neuburg an der Donau, angesprochen. Ein Landsmann versprach, ihr Arbeit zu beschaffen. Fast anderthalb Jahre lang wurde sie in einem Haus im Großraum München gefangen gehalten und zur Prostitution gezwungen.
Doch es muss nicht zu schwerwiegenden Vorfällen kommen, zu Vergewaltigungen oder Menschenhandel. Oft beginnen die Probleme mit einem schlechten Gefühl – und mit den bloßen Zahlenverhältnissen: Im Jahr 2014 waren nur etwa ein Drittel der Asylantragsteller Frauen. Betrachtet man einzelne Einrichtungen, ist das Ungleichgewicht noch größer. In der Bayernkaserne in München etwa kommen auf 80 Männer oft nur 20 Frauen. Alleinreisende Frauen machen sogar nur zehn Prozent der Bewohner aus. Eine Situation, mit der nicht jede klarkommt.
Josephine* aus Sierra Leone hat zweieinhalb Monate in der Bayernkaserne gelebt, ehe sie gemeinsam mit ihrem Ehemann in eine Unterkunft am Münchner Stadtrand verlegt wurde. Ihr Zimmer hat sie mit ihrem Mann und einem Ehepaar aus Eritrea geteilt. Im Haus habe es getrennte Sanitärbereiche für Männer und Frauen gegeben, aber keine abschließbaren Türen. Deshalb seien immer wieder ungebetene Gäste hereingeplatzt, als die Frauen gerade duschten. „Keine Ahnung, was die bei uns wollten“, sagt die 31-Jährige. Ihr Blick sagt etwas ganz anderes.
Mehrmals ist sie nachts in der Damentoilette auf Männer gestoßen. „Natürlich habe ich mich erschrocken“, sagt die junge Frau mit den Rastazöpfen. Angst habe sie keine gehabt – sie fürchte nur Männer mit Waffe. So wie den, der auf sie zielte, während ein anderer sie vergewaltigte. Damals, in Libyen, wo sie mit ihrem Mann lebte, ehe sie über das Meer nach Europa flüchten musste, weil die Libyer begonnen hätten, Einwanderer aus dem Ebola-Gebiet Sierra Leone umzubringen. „Es sind vor allem die muslimischen Frauen, die hier Angst haben“, sagt Josephine über den Alltag in der Erstaufnahme. „Gemeinsam wohnen, gemeinsam essen, Männer, die provozieren und Sprüche machen – manche sind da an ihre Grenzen gestoßen.”
In vielen – nicht in allen – Unterkünften herrsche eine „Atmosphäre der Übergriffigkeit“, sagt eine Sozialarbeiterin, die anonym bleiben will. Schuld daran sind oft die kleinen Dinge. Dass Frauen in Zelten und Turnhallen neben fremden Männern schlafen müssen. Dass die Zimmer nicht in allen Übergangseinrichtungen abgeschlossen werden können. Dass es nicht überall getrennte Sanitäreinrichtungen gibt, sodass viele Frauen Angst haben, nachts auf die Toilette zu gehen. Andere lassen ihre Töchter auch tagsüber nicht allein ins Bad.
Es ist der Klaps auf den Po, es sind die Bemerkungen im Vorbeigehen, das „auf die Pelle rücken“ in der Gemeinschaftsküche. „Viele Frauen leiden unter der Distanzlosigkeit, die in manchen Einrichtungen alltäglich ist“, sagt Margit Merkle von der Inneren Mission in München. Muslimische Frauen aus Afghanistan oder Syrien würden in ihrer Heimat fremden Männern nicht einmal die Hand reichen, wie sollten sie mit der plötzlichen Nähe zurechtkommen? Frauen aus afrikanischen Ländern werden dagegen oft gegängelt, wenn sie den Mund aufmachen.
„Meistens geht es darum, dass ein paar Männer ihre Überlegenheit markieren wollen“, sagt Josephine. Wer nach unten trete, festige dadurch seinen Platz in der einrichtungsinternen Rangordnung. Sie selbst werde regelmäßig angepöbelt, weil sie nicht ihren Mann für sich sprechen lasse. „Ich sage denen dann, sie sollen mich einfach in Ruhe lassen.“ Die junge Frau streckt abwehrend die Hand in die Luft. Bis hier und nicht weiter, soll das heißen.
Josephine prangert die Verrohung in den Flüchtlingsunterkünften an. „That’s camp life“ – „So ist das Leben im Lager“, ist eine Ausrede, die sie immer wieder hört. Dafür, dass sich manche Leute alles herausnehmen und andere dafür leiden lassen.
Viele Frauen, die in Deutschland zu Opfern werden, haben bereits in ihrer Heimat Gewalt erlebt. Sie sind vergewaltigt worden wie Josephine oder vor häuslicher Gewalt geflohen wie Yasmin. Für sie dreht sich die Spirale hier weiter. Für einige Frauen beginnt der Leidensdruck auch erst in Deutschland, da sich in Gemeinschaftsunterkünften die Gewalt häufig katalysiert.
„Die Enge, der Stress, das fehlende Reagieren der Behörden verstärken das Risiko für Frauen, Opfer zu werden“, sagt Juristin Heike Rabe. Denn natürlich sind die meisten Flüchtlinge nicht übergriffiger als die meisten Einheimischen. Gewalt ist keine Frage der Kultur.
Es sind die Umstände, die Spannungen schaffen: Das Zusammentreffen traumatisierter Menschen mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen, die auf engstem Raum zusammenleben müssen. Die eine lange, strapaziöse Flucht hinter sich haben und nun Monate in Unsicherheit ausharren müssen, bis sie wissen, ob ihnen Asyl gewährt wird oder nicht.
Yasmin musste mehrere Monate warten, ehe sie aus der Wohnung mit dem jungen Mann und den Blutspritzern in der Dusche ausziehen durfte. In ihrem neuen Zimmer wohnte sie Wand an Wand mit Familien, doch im Stockwerk darunter lebten die „Singlemänner“ - und Yasmin war die einzige alleinreisende Frau in der Unterkunft. „Sie dachten alle, sie hätten ein Recht auf mich“, erzählt sie. Sie habe viele Angebote bekommen. Die junge Frau lächelt nervös, schaut auf ihre Finger, sucht nach dem richtigen Wort. „Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, deshalb sage ich Angebote. Sie haben mich wie eine Schlampe behandelt, weil ich allein war. Ich schäme mich so.“
Wenn sie das dauernde Klopfen nicht mehr aushielt, ließ sie die Rollläden herunter und löschte das Licht. Oder sie floh in die Bibliothek, um zu lernen. Sie saß oft über ihren Büchern, ihr Deutsch ist heute nahezu perfekt.
Die Umstände in den Flüchtlingsunterkünften sorgen nicht nur für Spannungen, sie machen den wenigen, die tatsächlich gewalttätig werden, ihr Spiel auch sehr einfach. Bei Delikten sexualisierter Gewalt ist die Dunkelziffer in Deutschland hoch. Viele Frauen zeigen ihre Peiniger aus Scham und Angst nicht an.
Bei Flüchtlingen geht man davon aus, dass die Dunkelziffer noch deutlich größer ist. Bei ihnen kommt die Furcht hinzu, ihre laufenden Asylverfahren zu gefährden. Und die Angst vor der Reaktion der anderen Flüchtlinge in der Unterkunft. Oft sprechen sie im Gegensatz zu Yasmin die Sprache nicht, wissen nicht, was in Deutschland Recht und was Unrecht ist, haben Angst vor der Polizei, die sie in ihrer Heimat als korrupt kennengelernt haben.
Frauen, die allein reisen, verlieren durch die Flucht oft alle sozialen Kontakte. Frauen, die mit ihrem Ehemann reisen, sind oft an diesen gebunden, auch wenn er gewalttätig ist. Wenn sie keine eigenen Fluchtgründe genannt haben, ist ihr Asylantrag von dem des Ehemanns abhängig.
Viele Betroffene fühlen sich deshalb ohnmächtig, der Situation ausgeliefert. Dass gerade diejenigen, die am meisten leiden, häufig nicht über ihre Probleme sprechen (geschweige denn eine Straftat anzeigen), macht die Arbeit der sozialen Dienste schwierig. Wissenschaftliche Untersuchungen und journalistische Recherchen macht es nahezu unmöglich.
Yasmin ist eine der wenigen Flüchtlingsfrauen, die ihre Erfahrungen artikulieren kann, die sich traut, offen zu sprechen – obwohl auch sie anonym bleiben will. Aus Angst vor den Mitbewohnern, vor allem aber aus Angst vor den Behörden. „Je mehr ich kämpfe, desto schlimmer wird meine Situation hier“, sagt sie.
Die Iranerin hat Innenminister Thomas de Maizière einen Brief geschrieben, sie hat sich einen Anwalt gesucht, ist mit anderen Flüchtlingsfrauen auf einer Pressekonferenz aufgetreten, um ein Asylbewerberheim nur für allein reisende Frauen zu fordern. Sie hat sich bei der Kirche, bei Bürgermeistern, bei der Polizei beschwert. Und sie hat zahllose Anträge gestellt, bis sie nach Nürnberg umziehen durfte. Glücklich ist sie auch hier nicht. Die nicht nach Geschlechtern getrennten Sanitäranlagen in ihrem neuen Zuhause machen ihr zu schaffen. Zudem hat der Hausmeister einen Generalschlüssel. „Einmal stand er plötzlich im Zimmer und schrie mich an“, erzählt Yasmin. Sie gehe inzwischen zu einem Psychologen. „Ich habe Angst vor Männern seit meiner Ehe“, sagt sie. „In Deutschland ist das nicht besser geworden.“
Ein weiteres Problem: Selbst wenn eine Asylsuchende grundsätzlich bereit wäre, einen Übergriff zu melden, wird ihr das in der Praxis oft nicht leicht gemacht. Der Paritätische Gesamtverband kritisiert in einem Papier vom Juli 2015, dass es in vielen Unterkünften keine festen Ansprechpartner für die Betroffenen gebe oder das Personal nicht für den Umgang mit Gewaltvorwürfen geschult sei. Außerdem bestehe für die Betroffenen nicht immer die Möglichkeit, dem Peiniger zu entkommen, weil die Frauen in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft aufgrund der Auflagen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind.
Tatsächlich lässt das Gesetz Ausnahmen zu. Darauf verweist auch die Regierung von Oberbayern, Trägerin zahlreicher Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte. „Im Rahmen der zur Verfügung stehenden Kapazitäten besteht die Möglichkeit einer Unterbringung in einer anderen Unterkunft bzw. des Umzugs in ein Frauenhaus“, heißt es auf die Anfrage der SZ. Gegen Übergriffe innerhalb der Einrichtungen gebe es null Toleranz. Außerdem existiere ein Gewaltschutzkonzept.
Den Regeln zufolge können Heimleitungen und Polizei Hausverbote erteilen und Täter und Opfer trennen. In der Praxis würden diese Regelungen aber oft nicht angewandt, sagt Heike Rabe. Weil Rechtsunsicherheit herrsche. Und weil die Betreiber der Flüchtlingsunterkünfte selbst entscheiden, ob und wie sie mit geschlechtsspezifischer Gewalt umgehen. Wie der Paritätische empfiehlt Rabe ein allgemeingültiges Gewaltschutzkonzept für Gemeinschaftsunterkünfte.
Mancherorts wird inzwischen versucht, Frauen von Anfang an dezentral unterzubringen. Die zuständigen Stellen beklagen aber den hohen Aufwand, der damit verbunden sei. Und so überrascht es nicht, dass sich sämtliche Hilfsorganisationen in einer Sache einig sind: Solange die Flüchtlingszahlen rapide ansteigen und nicht mehr Geld und Personal in die Organisation gesteckt wird, wird sich an der Lage der Frauen nichts ändern.
„That’s camp life“, das sei bei vielen Mitbewohnern auch die Entschuldigung dafür, dass Duschen und Gemeinschaftsküchen zugemüllt werden, sagt Josephine aus Sierra Leone. Und dass die Toiletten wenige Minuten nach der morgendlichen Reinigung wieder verdreckt sind. Auch solche Dinge machten Frauen mehr zu schaffen als Männern, findet die 31-Jährige.
Sie selbst war im fünften Monat schwanger, als sie in der Bayernkaserne plötzlich heftige Unterleibsschmerzen bekam. Sie verlor ihr Kind. Wahrscheinlich eine Infektion, sagte der Arzt. Ob sie sich mit vielen anderen Menschen eine Toilette teile?
* Namen von der Redaktion geändert