Allerneueste Geschichte
Das Internet gilt als junges Medium. Falsch. Die SZ im Netz wird auch schon 20 – ein rückblickender Ausblick.
Dutzende Kollegen gehen jeden Tag an dem Wandbild vorbei, ohne groß darüber nachzudenken. Es hängt im neuen Newsroom der Süddeutschen Zeitung, der im März eröffnet wurde, zwischen Monitoren und iPads, und ist eine simple grafische Spielerei in Regenbogenfarben.
Wenn doch mal einer stehen bleibt und genauer hinsieht, sieht er darauf die Geschichte — ja, eben doch schon: Geschichte — des oft jung genannten Mediums Internet, das nun bei der SZ sein 20-Jähriges feiert.
Links ein langer roter Balken, nach rechts den Regenbogen durch, bis man beim Rot wieder rauskommt: Das Bild ist eine farbüberlagerte Collage von Screenshots jener Webseite, die zum 50-Jährigen der gedruckten Ausgabe am 6. Oktober 1995 als „SZonNet“ startete, dann für kurze Zeit „Süddeutsche Zeitung Online“ und länger „sueddeutsche.de“ hieß, schließlich „Süddeutsche.de“ und nun — Süddeutsche Zeitung, der logischste aller Namen. Die Balken sind unterschiedlich hoch, was so viel über eine wechselhafte Strategie verrät wie die Namensgebung.
Anfangs — der sehr lange Balken links — stand kostenlos oft die ganze SZ im Netz. Dann — gleich rechts davon, sehr kurzer Balken — nur mehr eine reduzierte Version, weil Papier-Abonnenten für ihr Geld doch mehr erhalten sollten als die Gratis-Nutzer im Netz. Dann wurde die Seite aus- und eine eigene Online-Redaktion in den Dotcom-Boom hinein aufgebaut. Und nach dem Platzen der Blase wieder abgebaut, wie es Manager so sagen. Die Seite fiel hinter Wettbewerber zurück.
Die Online-Seite ein Underdog, die papierene SZ eine der führenden Zeitungen der Republik: In dieser Konstellation fiel es – so viel Ehrlichkeit gehört zum Rückblick – den separierten Print- und Online-Redaktionen längere Zeit nicht leicht, sich in der digitalen Welt zurecht- und generell zusammenzufinden. Dass es mit den Jahren doch funktioniert hat, zeigt der sehr lange Balken auf dem obigen Wandbild rechts; dieser neueste Screenshot stammt vom März 2015.
Seit dem Großumbau der Seite in diesem Frühjahr steht wieder die ganze SZ im Netz, wirklich im kompletten Umfang und für Digitalabonnenten vollständig lesbar, für andere nur bis zu einer Grenze von zehn Autorentexten pro Woche. Daneben ist die digitale Ausgabe der täglichen Zeitung — 2011 als App-Angebot auf allen möglichen Plattformen und Geräten gestartet — nun auch bequem auf der Internet-Seite verfügbar.
Ob ein Text gedruckt, in Apps oder auf Online erscheint, ist für Leser wie Redakteure seither endgültig egal. Ob morgens der Münchner Zeitungsausträger oder mittags das iPhone in Ouagadougou den Journalismus der SZ liefert, bestimmen einzig unsere Abonnenten und Leser.
Inzwischen sind die gut hundert ausschließlich digital arbeitenden Journalisten des Hauses in gemeinsame Prozeduren und Ressorts mit Print-Kollegen integriert, weshalb wir uns nun als eine Redaktion verstehen, egal ob gedruckt oder Online — was im erwähnten neuen Newsroom mit dem bunten Wandbild seinen Ausdruck findet:
Nun reden wir Journalisten gern selbstreferentiell über derlei Reformen und Reformzwänge unseres Berufstandes. Viele Leser interessiert das zurecht nicht mehr als die Nöte der, sagen wir, Finanz- oder Fischereibranche. Spannend wird es für beide Seiten erst, wenn die Zukunft dessen, was Leser am unabhängigen Qualitätsjournalismus schätzen, in Frage steht.
Dies unterstellt man der digitalen Revolution, die das Leben der Menschheit von Grund auf verändert hat und es immer weiter tun wird, auch in Bezug auf die Finanzierung von Journalismus. Im Internet verdienen Verlage mit Anzeigen einen Bruchteil dessen, was sie vom Gedruckten gewohnt sind, und Werbeblocker im Netz tun ein Übriges.
Eine Redaktion wie die SZ mit Hunderten Kollegen in aller Welt zu finanzieren, ist deshalb nicht leicht und wird es auch so schnell nicht mehr sein; im Gegenteil bereitet die digitale Welt des Journalismus erst mal zusätzliche Arbeit — allerdings auch Vergnügen.
Über die Notwendigkeit zur ständigen Veränderung in herausfordernden Zeiten zu lamentieren, ist letztlich unsinnig angesichts der Chancen, die sich im digitalen Journalismus auftun.
Im Internet ist die SZ heute eine 24/7-Redaktion, die die ganze Woche rund um die Uhr berichten kann, was gerade wichtig ist respektive wieso. Nie zuvor hatte sie so viele Mittel, um die Komplexität der Welt ins Einfache zu übersetzen. Zum Alltag in der Redaktion gehören inzwischen Videos und Multimedia-Reportagen, animierte Karten und Grafiken, aber auch Mitmach-Aktionen wie „Die Recherche“, die früher so simpel kaum möglich gewesen wären und in denen der Austausch mit Lesern weit über Kommentarforen, Facebook-Likes oder Twitterdialoge hinausgeht: Wer hier abstimmt und mitredet, kann festlegen, welches kontroverse Thema die SZ-Redaktion mal in die Tiefe untersuchen soll.
Inter-aktiv, multi-medial: Diese Begriffe sagt man modisch schnell dahin. Aber auseinandergenommen und richtig wieder zusammengesetzt, führen sie Journalisten zu neuen Ideen und dann Leser in neue Erzählwelten.
All das ist auch nicht l’art pour l’art. Dieses Verständnis von digitalem Journalismus rechnet sich – woraus man Zuversicht schöpfen darf.
Heute macht die SZ mit digitalen Abos in ähnlichen Dimensionen Umsätze wie mit Anzeigen im Internet. Das beweist, dass treue Leser auch jenseits des Papiers für unsere Arbeit bezahlen werden. Wer sich nicht traut, für Journalismus im Internet Geld zu verlangen, macht diesen auf gewisse Weise Wert-los. Wir aber können zum 20-Jährigen der SZ im Netz mehr als 40.000 regelmäßigen Digitalkäufern für ihre Unterstützung danken.
Dass man offenbar auch mit Anspruch ein digitales Geschäftsmodell für Journalismus finden kann, macht Hoffnung.
Wer dem Regenbogenbild in unserem Newsroom ganz nahe rückt, merkt an den Screenshots, wie sehr sich Nachrichtenseiten im Internet verändert haben. 1995 waren Bilder Mangelware, die Seiten voller Text — mehr Layout ließen die Datenleitungen damals nicht zu.
Wer 1995 Kinder bekommen hat, muss ihnen heute oft erst erklären, dass es damals noch Wählscheibentelefone, sogenannte Telefonzellen und Modems gab, die lustige Geräusche machten, bevor man mit Boris Becker „drin“ war. Heute ist eine Mehrheit der Deutschen nie mehr richtig draußen, sondern auf Smartphones ständig online, und das DSL-Internet hat für viele Junge und Junggebliebene sogar das Fernsehen alter Prägung ersetzt.
Aus Zeitungssicht heißen die Kioske dieser neuen Welt nun Google und App Store, Facebook und Twitter, Instagram und WhatsApp. Jeder unserer Wettbewerber ist nur einen Klick weg, und aus Lesern sind messbare Nutzer geworden. Was sie lesen und was nicht, ist jederzeit analysierbar, und wenn man die Statistiken so anschaut, schlafen unsere Nutzer eigentlich nie.
Was für eine andere journalistische Welt das ist im Vergleich zu 1995! Aber auch im Vergleich zu 2000, 2005, 2010. So komplex, massiv und umfassend ist die Digitalisierung in den vergangenen zwei Jahrzehnten verlaufen, dass man sich auf viele spannende weitere Jahrzehnte einzustellen hat.
Wenn wir heute darüber reden, wie SZ-Journalismus auf einer Smartwatch funktioniert, dann hätten wir uns eine solche Debatte vor fünf Jahren kaum vorstellen können. Vor fünf Jahren haben wir auch viele Folgen des Smartphone-Booms nicht seriös prognostizieren können.
Vor zehn Jahren haben wir nicht gewusst, wie umfassend das Breitband-Internet unseren Alltag verändern wird.
Vor 15 Jahren — ein Jahr vor 9/11 — hätte man wohl den Vogel gezeigt bekommen, hätte man eine Totalüberwachung durch Staatsinstitutionen wie die NSA vorhergesagt.
Vor 20 Jahren war für viele der digitale Paradigmenwechsel keine Selbstverständlichkeit, so komisch das heute klingen mag.
In 30 Jahren feiert die Süddeutsche Zeitung ihr Hundertjähriges, die digitale SZ ihr Fünfzigjähriges. Wahrscheinlich sind digitale Medien dann die dominante Plattform für unseren Journalismus. Wie diese im Jahr 2045 aber genau aussehen werden, sprich: auf welchem Träger die SZ daherkommen wird und wie digital wir uns dann durchs Leben bewegen, darüber lohnt es so wenig zu spekulieren wie über die Frage, was das dann sicher erhältliche iPhone 21S kann.
Oder aber es gibt 2045 gar keine Smartphones mehr, sondern ein Retina-Display im Wortsinn, und unter „Android“ versteht man dank Robotisierung wieder die einstige Bedeutung des Begriffs. Nichts davon ist auszuschließen und die Herausforderung für den Journalismus offensichtlich.
Ebenso die Chancen.
Das Beste kommt erst noch, sagen Digital-Vordenker gern. Und selbst falls das nicht stimmen sollte — die Ära seit 1995 war eine gute Lehrzeit, um positives Nach-vorne-Denken zu üben. In den kommenden Jahrzehnten geht es dann darum, dieses Gelernte anzuwenden: damit die SZ im Innersten bleibt, was sie ausmacht, egal wo, wie und worauf man sie demnächst noch liest.